Kuss der Sünde (German Edition)
und mehr näherte er sich einem Zustand der Raserei. „Du bist selbst schuld“, hob sie die Stimme über das Rauschen des Regens und Oliviers unflätige Flüche.
„Ich soll schuld sein?“, brüllte er.
Die Adern an seinem Hals schwollen an. Sein Gesicht war bleich vor Zorn. Ninon stand auf und drückte ihm die Nachricht in die Hand. Abrupt kehrte er sich von ihr ab, glättete das Billet und überflog es. Seine breiten Schultern sanken leicht nach vorn. Er neigte den Kopf und presste den Handballen an die Stirn.
„Lass mich allein, Ninon.“
Wie könnte sie ihn in diesem Moment sich selbst überlassen? Sein heiseres Murmeln war schlimmer als sein Gebrüll. Reglos stand er am Fenster, den Blick blind in den Regen gerichtet. Anstatt zu gehen legte sie die Hand auf seine verhärtete Schulter. Seine Kiefer waren derart verspannt, dass sie jeden Muskel deutlich erkennen konnte. „Olivier.“
„Geh endlich. Raus mit dir“, presste er durch die Zähne, ohne sie anzusehen. „Raus aus diesem Zimmer und meinem Haus.“
Er gab ihr die Schuld daran. Vielleicht war sie es auch. Wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie wie jeden Tag um diese Uhrzeit das Abendessen vorbereitet und Mademoiselle Viviane aufhalten können. Niedergeschlagen trat sie den Rückzug an. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um und erkannte die ganze Wahrheit. Sobald er sich allein glaubte, gab er seine steife Haltung auf und rieb mit bebenden Händen über sein Gesicht. Er liebte Viviane Pompinelle, und diese Liebe hatte ihm für eine Weile vorgegaukelt, das Unmögliche sei möglich.
Lautlos zog sie die Tür ins Schloss und überließ ihn seinem Schmerz. Sie hatte seinem Vater nicht beistehen können, sie konnte auch ihm nicht helfen. Auf ihrem Zimmer wickelte sie einen Schal um Kopf und Schultern, nahm ihren Koffer auf und verließ das Haus. Im strömenden Regen steuerte auf das Hoftor zu, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Im Nachhinein kam Olivier das Gespräch mit dem Geistlichen in der kleinen Dorfkirche wie eine sinnentleerte Farce vor.
Wäre er hiergeblieben, hätte er die Nachricht von Juliette abfangen und vernichten können. Doch was hätte es letztendlich gebracht? Irgendwann wäre alles herausgekommen. Seine Kontaktaufnahme zu Juliette ebenso wie das Spielchen im Haus von Adrienne, wo er sie Alain überlassen und dabei zugesehen hatte. In seiner Euphorie hatte er es verdrängt und ausschließlich gesehen, was er sehen wollte. Er hatte an eine Zukunft, sogar an ihre Märchen über Feen und Sagen glauben wollen, obwohl ihre Familie und sein Lebensweg dagegensprachen. Er hatte sich von romantischen Anwandlungen lenken lassen. Jedem anderen hätte er auf den Kopf zusagen können, mit welchem Resultat zu rechnen war, und er selbst tappte blind hinein in seinen Selbstbetrug. Viviane war gegangen, und das Fehlen jeglicher Nachricht – wüster auf Papier gekritzelter Beschimpfungen etwa, die sie für ihn zurückließ – zeigte die Verachtung, die sie für ihn empfand. Nun, er konnte es ihr nicht verübeln. Sie hatte das einzig Richtige getan.
Das Atmen fiel ihm schwer. Seine Rippen schienen sich zusammenzupressen, sich um sein Herz zu schließen und es langsam zu zerquetschen. Hart lachte er auf, zerknüllte das Billet in der Faust und schleuderte es zur Seite. Er war einer Schimäre nachgejagt, hatte sich eingeredet, dass seine Vergangenheit wie ein altes Hemd abgestreift werden konnte. Der Druck in seiner Brust wurde so stark, dass er die Finger in sein Haar grub. Er versuchte das Zittern zu unterdrücken, das von den Händen bis in die Arme hinaufzog. Lange Zeit lauschte er auf den Regen und starrte an die Wand.
Allmählich kehrte die Kaltblütigkeit eines Fälschers zu ihm zurück. Immerhin war sein Plan erfolgreich. Eine Tochter der Pompinelles hatte er einem Tanzmeister zugeführt und die andere in sein Bett geholt. Vor allem Juliettes Ruf war mit ihrer Schwangerschaft vollends zunichtegemacht, wenn auch nicht durch ihn. Und Viviane … Er musste sie vergessen. Da es nicht zu ändern war, konnte er seine Rache auch zu Ende führen. Juliettes Zustand und ihre Nachricht boten ihm die Chance, den Pompinelles ihren ganz persönlichen Skandal zu bescheren. Das Zittern seiner Hände ebbte ab. Er mochte einmal von seinem Weg abgekommen sein, ein zweites Mal sollte es nicht geschehen. Elf lange Jahre war es ein guter Weg gewesen, ein Weg im Verborgenen, der ihn zu einem vermögenden Mann gemacht hatte.
Ganz Paris
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