Kuss der Sünde (German Edition)
wenig, damit ihre Finger sich berührten. Mit einem verächtlichen Laut wich Juliette ihr aus und schüttelte den Kopf.
„Ich bleibe nicht hier. Ich gehe meinen eigenen Weg und werde nicht zurückkommen. Nie wieder.“
„Wohin soll dieser Weg denn führen? Olivier Favre ist ein Teufel. Er wird dich im Stich lassen, dich bei irgendeiner Engelmacherin absetzen, die mit schmutzigen Gerätschaften hantiert. Du wirst unter ihren Händen verbluten. Bitte, nimm meine Hand.“
Ihre Schwester hatte das Hoftor erreicht, drückte sich mit dem Rücken an die Gitter.
„Ich kenne keinen Mann namens Favre. Wenn du von Olivier Brionne redest, dann weiß ich Bescheid. Neidisch bist du! Du warst schon immer neidisch, hast mir alles missgönnt und willst nur nicht zulassen, dass ich glücklich werde. Eifersucht ist es, sonst nichts.“
Viviane ließ die Hand sinken. Olivier Brionne, unter diesem falschen Namen hatte er sich also ihrer Schwester vorgestellt. Durch und durch verdorben setzte er alles daran, seine Spuren zu verwischen, nachdem er sie ins Verderben geführt hatte.
„So ist es nicht“, brach es gequält aus ihr hervor, obwohl ihr bewusst wurde, dass sie sich selbst belog.
Sie war eifersüchtig. Während ein Teil von ihr Juliette vor einem Unglück bewahren wollte, gönnte der andere Teil ihr nicht den Mann, auf den sie selbst verzichten musste. Es war kleinlich und beschämend und änderte nichts an ihrer Überzeugung, dass Olivier ihre Schwester ins Verderben führen würde. Allein und verlassen würde sie irgendwo sitzen, ohne eine Möglichkeit zur Umkehr.
„Bitte. Denk an Maman und Papa. Sie werden …“
„Ach, hör schon auf. Hast du denn an sie gedacht in all den Tagen, in denen du fort warst? Du bist so verlogen, Viviane. Du bist einfach nur anmaßend.“
„Juliette!“
Mit einem Satz wollte sie ihre Schwester packen und zur Not mit Gewalt ins Haus zurückzerren. Der Hufschlag eines Pferdes auf der Straße hielt sie davon ab. Flink huschte sie hinter den Stamm einer Platane. Sie war einer Begegnung mit Olivier nicht gewachsen. Nicht jetzt. Nicht hier. Ein Reiter erreichte das Hoftor. Er trug einen Umhang und hatte seinen Dreispitz tief in die Stirn gezogen. Trotzdem erkannte sie ihn. Er zügelte sein Pferd und stieß einen gedämpften Pfiff aus. Wie ein treuer Hund lief Juliette zu ihm. Das eiserne Tor quietschte leise in den Angeln und fiel scheppernd zurück ins Schloss.
„Olivier“, hauchte sie.
Seine Antwort kam zu leise, als dass Viviane sie verstehen konnte. Sie grub die Fingernägel in die Borke des Stammes, hinter dem sie sich verbarg, als er sich aus dem Sattel beugte. Juliette streckte sich nach ihm. Ein Arm legte sich um ihre Taille und hob sie mühelos hinauf. Sein Umhang wehte auf und legte sich über die eisblaue Robe. Das Pferd trabte an, und der Hufschlag verklang. Übelkeit übermannte Viviane. Unter ihren Fingernägeln splitterte die Borke. Sie waren längst fort, als sie auf das Hoftor zulief und die Gitterstäbe umfasste. Die Straße war verlassen und glänzte feucht. Ihre größte Befürchtung hatte sich erfüllt. Er hatte keine Zeit verloren und sich aufgemacht, um ihre Schwester zu holen. Sie selbst war für ihn nie von Bedeutung gewesen, und sie fragte sich, welche Rolle sie überhaupt gespielt hatte, wenn sein Herz ganz offensichtlich einer anderen gehörte. Weshalb dieses lügnerische Schauspiel, dessen Höhepunkt sie in seinem Antrag sah?
„Der Teufel soll mich holen, wenn ich das einfach zulasse“, sagte Viviane zu dem nassen Kopfsteinpflaster.
Der Teufel schien ihr auch zugleich auf den Fersen zu sein, so schnell rannte sie ins Haus zurück und in ihr Zimmer, wo Pauline auf sie wartete. Vom Fenster aus hatte sie alles gesehen und anschließend eine Kerze entzündet. Verzagt kaute das Nesthäkchen der Familie auf der Unterlippe.
„Wir müssen Papa wecken. Wir dürfen es nicht verheimlichen, Viviane.“
„Wir werden niemanden wecken“, entgegnete sie grimmig. „Ich folge ihnen. Ich weiß, wohin sie reiten, und ich hole Juliette zurück. Niemand muss irgendetwas erfahren.“
Pauline hob die Kerze, um Viviane damit ins Gesicht zu leuchten. „Du kannst den beiden nicht allein folgen. Mitten in der Nacht.“
Viviane überhörte ihren Einwand. „Wohin haben sie die Kleider gebracht? Die schwarze Männerkleidung, die ich trug?“
„Keine Ahnung. Im Stall findest du bestimmt etwas. Die Sachen von den Stallburschen.“
Pauline folgte ihr in die Ställe und
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