Kuss der Sünde (German Edition)
fließen, und bemerkte erst, dass sie nicht mehr allein war, als ein Gewicht die Bettmatratze niederdrückte. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals und hielt den Atem an. Selbst jetzt hoffte sie noch. Auf Olivier, der sich durch das Haus und direkt in ihr Zimmer gestohlen hatte. Alles würde sich als Irrtum herausstellen. Er würde sie in die Arme schließen und es ihr erklären, in dem weichen Timbre, das seine Stimme annahm, wenn er mit ihr sprach.
Eine kleine, weiche Hand berührte ihre Wange. „Viviane, geht es dir gut?“
Pauline. Es war nur ihre kleine Schwester. Die Frage steigerte ihre Verzweiflung ins Unermessliche. Pauline war ein knochiges Mädchen, weder Fisch noch Fleisch, und im Augenblick der einzige Trost. Schluchzend warf sie sich herum, umarmte das Nesthäkchen und schluchzte laut auf. Ihre Lungen verkrampften, sie bekam keine Luft mehr. Ihr Weinen war von quälender, schmerzhafter Härte. Pauline streichelte über ihr Haar und drückte sie an sich.
„Bitte, hör auf zu weinen, Viviane. Es macht mir Angst. Was ist bloß geschehen?“
Sie klang erbärmlich und war selbst den Tränen nah. In der Dunkelheit fanden ihre Fingerspitzen Vivianes Gesicht. Sie wischte die Tränen von ihren Wangen und drückte einen Kuss darauf.
„Ich brauche ein Taschentuch“, verlangte Viviane mit verstopfter Nase.
Pauline schlüpfte aus dem Bett und trat an die Kommode neben dem Fenster. Eine Lade wurde geöffnet und kurz darauf wieder zugeschoben. Ihre kleine Schwester kehrte jedoch nicht ans Bett zurück. Erschöpft rollte Viviane sich herum. Die Jüngere stand am offenen Fenster, umgeben vom silbrig blonden Schleier ihres langen Haares.
„Was ist, Pauline?
„Ich glaube, Juliette will ausreißen“, wisperte sie tonlos.
„Was?“
Viviane sprang aus dem Bett und trat zu ihr.
„Sieh nur, sie klettert aus dem Fenster. Oh je, wie sieht sie denn aus?“
Nervös kicherte Pauline angesichts ihrer Schwester, die tatsächlich aus ihrem Fenster stieg. Sie trug eine eisblaue, im Mondlicht funkelnde Ballrobe. Der ausladende Rock erschwerte ihren Abstieg. Im Schneckentempo kroch Juliette an der Hausmauer entlang und nutzte die Ornamente für ihren Abstieg. So unbeholfen sie wirkte, Viviane hätte ihr das nicht zugetraut.
„Ich rufe sie“, schlug Pauline vor und wollte sich aus dem Fenster lehnen.
„Nein, wir werden jeden Lärm vermeiden. Du wartest hier. Ich halte sie auf, bevor jemand wach wird.“
Sie vergeudete keine Zeit mit der Suche nach ihren Pantoffeln und flitzte barfüßig aus dem Zimmer, nahm die Treppe in großen Sätzen und raffte ihr Nachthemd bis zu den Knien hinauf, um nicht über den Saum zu stolpern. Der Riegel an der Haustür war gut geölt und öffnete sich geräuschlos. Viviane lief aus dem Haus, hinaus in leichten Nieselregen.
Ein ganzes Stück vor ihr rannte Juliette auf das Hoftor zu. Ungeachtet der runden Kiesel, die sich in ihre Fußsohlen bohrten, setzte sie ihr nach. Sie musste sie aufhalten. Ihre Flucht durfte nicht gelingen. So wenig sie gemeinsam hatten, war es ihre Pflicht, die Jüngere daran zu hindern, einen Fehler zu begehen.
„Juliette!“
Auf ihren Ruf hin wirbelte Juliette herum. Der weite Rock ihrer Robe bauschte sich. Selbst unter den Platanen, die die Auffahrt säumten, blitzten die weißen Spitzenärmel auf, die sich in einer Glocke von den Ellbogen auf ihre Unterarme ergossen. Sie erkannte Viviane und stolperte mit einem Laut des Schreckens rückwärts.
„Juliette, du darfst nicht davonlaufen. Wir finden einen anderen Ausweg.“
Es war zu dunkel, um den Gesichtsausdruck ihrer Schwester zu erkennen, und ebenso wenig konnte diese sehen, dass Vivianes Augen vom Weinen geschwollen waren.
„Du hast keine Ahnung, worum es geht!“, stieß Juliette mit heller, atemloser Stimme aus und schritt rückwärts auf das Hoftor zu.
„Ich weiß es. Du erwartest ein Kind. Bitte, komm mit mir ins Haus zurück. Wir werden eine Lösung finden. Gemeinsam. Ich helfe dir.“
„Ausgerechnet du bietest deine Hilfe an?“, zischte Juliette. Die Distanz zu Hoftor und Straße verringerte sich mit jedem ihrer Schritte. „Du hast doch nie etwas für mich getan. Seit du nach Hause gekommen bist, hast du alles versucht, um mich zu verdrängen. Immer musste sich alles um dich drehen.“
„Juliette, du begehst einen Fehler. Du musst hierbleiben.“
Behutsam, als würde sie sich einem scheuen Tier annähern, ging Viviane auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. Es fehlte nur
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