Kuss der Sünde (German Edition)
die auf dem Nachttisch brannte. Die ungewöhnl i che Stille, die auf das Poltern folgte, löste Beklemmung in ihr aus. Etwas feh l te. Ihr Oberkörper schoss in die Gerade. Schmerzhaft knackte es in ihrem Rücken, als müssten sich die Wirbel nach Stunden in krummer Haltung ei n renken. Der stechende Schmerz verebbte, und sie erinnerte sich, wo sie war und weshalb sie auf den Knien lag. Sie stierte auf Justin, dessen Gesicht dem ihren ganz nah war. Seine Lippen klafften leicht, sodass sie seine Schneid e zähne sehen konnte. Das Rasseln in seinen Lungen war verstummt. Sein Brustkorb bewegte sich nicht. Sie legte die Hand darauf. Er war hart wie der Panzer einer Schildkröte. Ihr eigener Atem hallte laut in ihren Ohren. Mü h sam kam sie auf die Füße. Ihre Beine waren taub. Tausend Nadeln stachen in ihr Fleisch.
„Nein.“ Sie wusste nicht, ob sie es laut aussprach oder es nur dachte. Ihre Kehle wurde eng. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und holperte unstet weiter. Leicht schüttelte sie Justin an der Schulter. „Justin. Wach auf.“
Sein Kopf sank zur Seite. Er würde nicht aufwachen. Nie wieder.
„Justin !“
Unter ihren Händen lag eine kalte, leblose Puppe mit wächsernem Porze l langesicht.
Etwas Feuchtes floss aus ihrer Nase und netzte ihre Oberlippe. Sie zog die Hände zurück und grub die Fingernägel in ihre Wangen. Das war ein Traum, ein Al b traum , aus dem sie unbedingt erwachen musste. Justin war nicht tot. Er durfte nicht tot sein. Fest sog sie die Lippen zwischen die Zähne und biss zu, bis sie Blut schmeckte. Sie wachte nicht auf. Es war kein Al b traum . Der Leichnam ihres Bruders schrumpfte vor ihren Augen. Unter der Decke war nur sein Brustkorb zu sehen, als hätte er seine Beine verloren. Seine Nase wir k te unnatürlich spitz, die Höhlen seiner Augen waren eingefallen. Viviane ballte die Faust und biss in ihre Fingerknöchel.
„Verflucht! Verflucht! Verflucht!“, rollte es über ihre Lippen, ohne dass sie Gewissensbisse über diese Flüche vor einem Toten empfand.
Nachdem sie es herausgepresst hatte, wurde sie etwas ruhiger. Sie beugte sich über ihren Bruder, drückte die Lippen auf seine Stirn. Vor wenigen Stu n den war sie heiß gewesen, jetzt traf sie auf starre Kälte.
Gemessen verließ sie das Zimmer und schritt gleich einer Marionette die Treppe hinunter. Sie öffnete die Tür eines kleinen Salons und bl ieb auf der Schwelle stehen. Es brauchte keine Worte. Ihr Vater und ihr Onkel wussten, was ihr Auftauchen um diese Stunde bedeutete.
Ihr Vater schlug die Hände vors Gesicht.
Der Vicomte stemmte sich aus dem Fauteuil und trat zu ihr. „Ich wecke deine Mutter. Du sagst es deinen Schwestern.“
Sie wusste nicht, ob sie genickt hatte, ehe ihr Onkel schwerfällig die Treppe hinaufstieg. Sie wusste nicht einmal, wie sie vor Juliettes Zimmertür gefunden hatte. Ohne anzuklopfen öffnete sie die Tür. Das Licht aus dem Gang fiel auf das Bett ihrer Schwester. Juliette saß splitternackt inmitten zerwühlter Laken und kreuzte die Arme vor den Brüsten. Ihr zerzaustes Haar bedeckte ihren Oberkörper. Mit geweiteten Augen starrte sie Viviane an und glich einem geblendeten Reh, das in seinem Versteck aufgestöbert worden war. Ihre Nacktheit überraschte Viviane nicht. Es gab nichts, was sie in diesem Moment überraschen konnte. Ein überwältigend stechender Schmerz vereinnahmte sie.
„Was willst du hier?“, fauchte Juliette .
„Zieh dir etwas über und komm mit.“
Juliette glotzte fassungslos. Ihre Lippen schlossen und öffneten sich, ohne dass ein Ton hervorkam. Sie warf ihr Haar zurück. „Was willst du von mir?“, begehrte sie schrill auf. „Es ist mitten in der Nacht. Lass mich zufrieden. Ich habe nichts getan.“
Viviane presste die Hand gegen ihre schmerzende Schläfe und versuchte , die drei Worte zu bilden, die sie nicht sagen wollte. Sobald sie es laut aussprach, würde etwas in ihr zerspringen. Ihre Schwester atmete schwer und suchte nach etwas in Reichweite, das sie nach ihr werfen konnte. Sie gab sich einen Ruck. „Justin ist tot.“
„Justin?“, echote Juliette, als hätte sie die Existenz ihres Bruders ve r gessen.
Aus Vivianes Magen schoss Galle in die Kehle. Sie konnte nichts mehr s a gen und lief davon. Sie musste sich zusammenreißen , musste Pauline wecken und es noch einmal sagen. Zuvor ging sie in ihr Zimmer und erbrach ihren Mageninhalt in die Waschschüssel.
Das Gesinde strömte zusammen und versammelte sich mit der Familie im Zimmer des
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