Kuss der Sünde (German Edition)
Sie hörte die Axt und sein Ächzen, einen tonlosen Aufschrei des Aufbegehrens, das letzte Rauschen seiner Krone, als er fiel. Die Verbindung zu einem sagenhaften Volk, dessen Liebe zur Natur alles übertraf, wurde ihr zum ersten Mal überdeutlich bewusst. Ihre Augen begannen zu brennen, füllten sich mit Tränen, während ihre Sinne sich auf die Maserung des nun toten Holzes richteten. Ein haarfeines Kunstwerk in sich, mit Lack versiegelt. Es wurde durchbrochen von einem Zylinder. Sie schmeckte das Metall auf der Zunge, roch die Hitze der Schmiede, in der es gebogen und geformt worden war und erspürte den Verlauf der Einbuchtungen. Sie schien zu schrumpfen, wähnte sich für einen Moment im Inneren des Zylinders, eine Miniatur in einem hohen Metallraum.
Ich will!
Der Gedanke dehnte sich, gewann an Kraft und endete in einem Schnappen.
Nie hatte sie ihre Gabe so langsam und bewusst ausgeübt. Zum ersten Mal erfasste sie sie in ihrem vollen Umfang. Allein dafür hatte es sich gelohnt. Ihre Hand schien für einen Augenblick im dunklen Zimmer schwach zu leuchten und prickelte vor Energie.
Dann versiegte es, und sie betrat den Gang. Ein Läufer verschluckte ihre Schritte, als sie auf die erstbeste Tür ihr gegenüber zustrebte. Dahinter hingen Bilder an den Wänden und weitere lehnten unten am Boden. Die Motive blieben in der Dunkelheit unkenntlich. Ansonsten war das Zimmer leer. Sie ging auf das Nächste zu und entdeckte durch den Türspalt ein Bett und die Kontur eines Menschen unter einer Daunendecke. Sofort zog sie die Tür wieder ins Schloss. Um knarzende Stufen zu meiden, nahm sie dicht an der Wand entlang die Treppe nach unten. Auch hier schien das Holz zu ihr zu sprechen, sie zu leiten, wohin sie ihre Füße setzen sollte, um lautlos nach unten zu gelangen.
Zur Rechten konnte sie einen Blick in einen kleinen Salon werfen. Eine Sitzgruppe, eine Glasvitrine und auf einem Tisch ein Rosenstrauß, der seinen süßen Atem verströmte. Durch einen bogenförmigen Durchgang gelangte sie in ein Speisezimmer, doch hielt sie sich nicht lange auf. Niemand würde wohl brisante Briefe in einem Buffetschrank verstecken. Mit wehendem Nachthemd huschte sie ins Vestibül und wandte sich den Zimmern zur Linken zu. Im nächsten Raum traf sie auf eine beachtliche Menge an Büchern. Inmitten der Regalwände stand ein von Papieren bedeckter Schreibtisch. Unter dem Fenster standen Kisten mit weiteren Papierrollen. Umso leichtsinniger erschien ihr die brennende Kerze auf dem Schreibtisch. So entstanden verheerende Brände. Hier musste sie richtig sein. Irgendwo unter diesen Schriftstücken würde sie die Briefe finden.
Schnurstracks steuerte sie auf den Schreibtisch zu und untersuchte die Schriftstücke. Amtliche Dokumente mischten sich unter private Schreiben mit jeweils unterschiedlichen Handschriften. Mühsam entzifferte Viviane den Anfang eines Testaments: Der Wald mit zweihundert Eichen geht an meinen geliebten Neffen Charles Virgoles.
Der Satz eines anderen Briefes stach ihr ins Auge: So werden Sie gewiss verst e hen, dass ich es nicht länger mit meinem Gewissen und meiner Ehe vereinbaren kann, Sie heimlich zu treffen. Ich fürchte , mein Gemahl ahnt bereits etwas, stand da in der zierlichen Handschrift einer Frau.
Wo war der Zusammenhang zu den Eichen für einen Neffen? Sie inspizierte eine kleine Kiste an der Tischkante. Darin befanden sich Utensilien, die sie eher in den Amtstuben der Krone erwartete als in einem Privathaus. Stempel aller Art, Siegellack, Federn. Ein Papiermesser und ein Dokument, auf dem sich das Siegel des Palais de Justice in unterschiedlicher Ausprägung zeigte. Von einer unklaren Form wandelten sich die Abdrücke und gewannen an Schärfe. Sie legte das Dokument zurück.
Olivier Favre war ein Fälscher.
In den Kisten lagen Abschriften aller Urkunden und Briefe, die er erstellt hatte. Sie zählte die Kisten durch. Siebzehn! Die Arbeit vieler Jahre. Wie konnte jemand über so lange Zeit Fälschungen herstellen, ohne ergriffen zu werden?
Prompt folgte die Antwort. Auf dieselbe Weise wie es ihr gelang, ihre Neigung vor allen Freunden der Familie zu verbergen.
Nach außen war sie eine Dame, gehüllt in die Roben der berühmtesten Modistin von Paris, elegant und mit Juwelen geschmückt, dezent geschminkt und immer ein Lächeln auf den Lippen. Er besaß seine eigene Fassade. Vermutlich konnte er jederzeit durch Paris spazieren, und jeder, der ihn sah, dachte an einen Kaufmann oder Bankier, einen
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