Kuss der Sünde (German Edition)
verbreitet wird.“
Auf der Tischkante lag der kleine Briefstapel, adressiert an Kardinal Rohan. Viviane musterte die Handschrift auf dem obersten Kuvert und überlegte, ob es ihr gelingen könnte, die Briefe an sich zu nehmen und zu zerreißen, bevor er eingreifen konnte. Doch zerrissene Briefe konnte man wieder zusammenkleben.
„Die Briefe gehören mir, sobald ich Sie geküsst habe?“, nahm sie ihn beim Wort und die Briefe an sich, ohne dass er sie daran hinderte.
„Ja.“
„Und es steht mir danach frei, zu gehen?“
„Davon war nicht die Rede, ich bedaure.“ Er zuckte ohne jedes Bedauern die Schultern. „Vielleicht wollen Sie nach unserem Kuss gar nicht mehr gehen, hm?“
Wie alle anderen Sticheleien zuvor, ignorierte sie auch diese. Ihr Magen zog sich zusammen. In ihren Träumen hatte sie ihn schon oft geküsst, aber eingedenk der Küsse des Advokatensohnes André rechnete sie mit einer Enttäuschung. Zudem wurde die Faszination, die Olivier noch immer auf sie ausübte, nach allem, was er ihr an den Kopf geworfen hatte, inakzeptabel. Sie wollte keinen Mann mögen, der sie in schneidender Schärfe herunterputzte wie ein unartiges Kleinkind. Andererseits, ein einzelner Kuss war ein geringer Preis. Es gab Menschen, die für die Königin ihr Leben gelassen hätten. Fest umfasste sie die Papiere und machte einen Schritt auf ihn zu. Da er ihr nicht entgegenkam, war sie gezwungen, sich auf die Zehenspitzen zu heben. Er war ihr so nah, dass sie seine Körperwärme spürte. Vor lauter Aufregung verlor sie die Balance und musste die Hand auf seine Schulter legen. Dies nahm er als Einladung, den Arm um ihre Taille zu schlingen und sie an sich zu ziehen. Abgesehen von der Familie und ihrem Fauxpas mit dem Advokatensohn war sie keinem Mann so nah gekommen. Sie spürte Fleisch und Muskeln und eine Nähe, die ein seltenes Gefühl von Geborgenheit in ihr auslöste. Es gefiel ihr.
„Denken Sie daran, tief in Ihrem Herzen verbirgt sich eine leidenschaftliche Frau.“
Dieser letzte lakonische Scherz brachte das Fass zum Überlaufen. Sie packte sein Gesicht und versetzte ihm einen so harten Kuss auf die Lippen, dass ihre Zähne aneinanderschlugen. Ihr Überraschungsangriff entlockte ihm einen kleinen erstickten Laut. Sacht legte er eine Hand an ihren Hinterkopf, grub die Finger in ihr Haar. Der Arm um ihre Taille wurde zu einer stählernen Fessel. Der Druck ihrer Lippen ließ nach, obwohl er nicht zuließ, dass sie sich von ihm löste.
Weder der Advokatensohn noch die Lektüre der schlüpfrigen Bücher ihrer Mutter hatten sie auf diesen Kuss vorbereitet. Über ihre Arme zog eine Gänsehaut, die sich in einem Prickeln über ihren Rücken fortsetzte. Die Berührung seiner Lippen auf den ihren war ihr fremd und schien gleichzeitig selbstverständlich zu sein. Seine Zungenspitze tippte sacht gegen ihre Oberlippe, teilte ihren Mund und schlüpfte hinein. Ihre Knie wollten nachgeben. Es war ganz anders als damals mit dem Sohn des Advokaten, der ihr seine Zunge so tief in den Mund geschoben hatte, dass sie glaubte, an diesem Fremdkörper ersticken zu müssen. Bei Olivier war es lediglich eine zarte Aufforderung, ihm entgegenzukommen. Wundervoll!
Sie fühlte sich schwer, und gleichzeitig verlor sie an Gewicht. Die leichten Zungenschläge machten sie schwindlig und führten sie in einen Zustand der Entrückung. Unmöglich, sich daraus zu lösen. In ihr schlug etwas an. Fremd und vertraut zugleich, als würde sie ihn seit Jahren kennen. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und ließ sich in all die unbekannten Gefühle hineinfallen, die er in ihr auslöste.
Er war es, der schließlich den Kopf hob und von ihr abließ. Die Briefe waren ihr aus der Hand gefallen und lagen um sie herum am Boden verstreut. Mit einem verlegenen Räuspern trat sie zurück und überließ es ihm, sie aufzuheben und ihr in die Hand zu drücken.
„Sie haben sich die Briefe redlich verdient“, bemerkte er.
Seine Stimme klang belegt, sein Lächeln wirkte nicht mehr ganz so arrogant, und seine Bewegungen erschienen ihr so fahrig, wie sie sich fühlte. War er genauso benommen wie sie?
Er stieß den Atem aus und wandte sich ab. Sobald ihr Blickkontakt abbrach, kehrte sie in die Gegenwart und zu ihrem Anliegen zurück. Sie musste handeln, ehe er es sich anders überlegte. An einem Kandelaber auf dem Tisch hielt sie den kleinen Stapel in die Kerzenflammen. Das Papier qualmte, verfärbte sich in dunkles Braun und ging in Flammen auf. Flammen, die
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