Kuss des Apollo
ihres Neffen. Will hatte keine Aufenthaltsgenehmigung, und er bekam keine Lebensmittelkarten. Außerdem hoffte sie ja, dass ihre Schwester eines Tages käme.
Sie erklärte es Will ziemlich kühl.
»Ich habe keinen Krieg angefangen. Und dass die Amerikaner sich mit den Russen verbündet haben, ist eine Gemeinheit. Was geht sie ein Krieg in Europa überhaupt an? Aber sie haben sich das letzte Mal schon eingemischt, 1917, weißt du, das Kriegführen muss ihnen riesigen Spaß machen. Und nun haben sie den Russen auch noch halb Deutschland in den Rachen geschmissen. Dafür lasse ich mich jetzt amerikanisch ernähren. Und dich auch.«
Will hatte nichts dagegen einzuwenden, er sagte nur: »Und wenn dein Mann doch noch zurückkommt?«
»Dann werde ich es ihm mit diesen Worten erklären.«
Der Amerikaner war ein netter blonder Junge aus Arkansas, gut gelaunt und echt verliebt in Kitty. Er tat für sie, was er konnte, und für Will ebenso. Und als dann noch Herbert Frobenius zur Familie stieß, konnten sie alle froh sein, ihn zu haben.
Herbert kam wirklich aus dem Baltikum, aus diesem Land großer deutscher Geschichte, von Ordensrittern aufgebaut und kultiviert, das aber seit Peter dem Großen zu Russland gehörte.
Geboren war er in Reval, dort hatte er die ersten elf Jahre seines Lebens verbracht. Also war er alt genug, um unter dem Verlust der Heimat zu leiden, alt genug auch, um das Leid seiner Mutter mitzuempfinden. Sie stammte aus altem baltischem Adel, war in diesem Sinn erzogen; von Hitlers Gnaden nun in einem polnischen Dorf angesiedelt zu werden, lehnte sie ab. Sie wollte, dass ihr Sohn weiterhin ein Gymnasium besuchte, um später studieren zu können. Sie entschied sich für Danzig, das nach dem Ersten Weltkrieg ein Freistaat geworden war, geschützt und verwaltet vom Völkerbund in Genf. Es war eine alte Stadt mit großer Tradition, in der sie meinte leben zu können. Dort wohnte auch der Anwalt der Familie, der Reval bereits Ende der Zwanzigerjahre verlassen hatte, er verwaltete den Rest ihres Vermögens. Das Schloss nahe der Ostsee hatte ihr Vater längst verkauft, auch das Stadthaus in Reval, in dem sie zuletzt gewohnt hatte, gehörte ihr nicht mehr.
Sie war sehr einsam, sehr unglücklich. Ihre Mutter war gestorben, als sie vier Jahre alt war, erzogen wurde sie von einer französischen Gouvernante, betreut von estnischem Personal. Ihr ältester Bruder wurde von den Bolschewisten ermordet, der andere Bruder verschwand über das Meer nach Schweden.
Verbittert von dieser Zeit, die eine alte bedeutende Geschichte zerstört hatte, erschoss sich ihr Vater. Ihre Verlassenheit war einer der Gründe, aus denen sie eine verhängnisvolle Ehe eingegangen war, eine Ehe, zu der ihr Vater nie seine Einwilligung gegeben hätte.
Fjodor Frobenius war Russe, stammte jedoch von einer deutschen Familie ab, die in Moskau eine Schokoladenfabrik besessen hatte, enteignet von den Bolschewisten. Er kam als Hauslehrer zu ihnen nach Reval. Schon als Kind hatte sie ihn bewundert, als heranwachsendes Mädchen schwärmte sie für ihn. Er war groß und kräftig, hatte ein ausgeprägtes Gesicht mit schweren dunklen Brauen und dichtes dunkles Haar. Es begann mit einer großen Leidenschaft, die sie, jung, wie sie war, für Liebe hielt.
Fjodor Frobenius jedoch wurde zum überzeugten Stalinisten, und er verlangte von seiner Frau, dass sie mit ihm nach Moskau umzog. Das brachte nach stürmischen Jahren voller Streit die Trennung. Sie lebte allein mit ihrem Sohn Herbert in Danzig, sie hatte eine hübsche Wohnung, er ging in die Schule, er war gut gekleidet, und sie versuchte den Lebensstandard ihrer Jugendjahre aufrechtzuerhalten.
Tatsache war, dass sie kein Geld mehr hatte, der Rest des einstmals transferierten Vermögens war während des Krieges verloren gegangen.
Gesundheitlich ging es ihr nicht gut, sie hatte ein Herzleiden und litt unter Atemnot.
Dass alles bald zu Ende sein würde, wusste sie. Die Russen rückten näher, und Danzig würde von den Nazis verteidigt werden.
Herbert hatte ein Notabitur gemacht, und seine Mutter verlangte von ihm, dass er die Stadt verließ, gen Westen floh, um den Sowjets zu entkommen.
Sie haben uns alles genommen, sie haben meine ganze Familie umgebracht, ich will, dass du am Leben bleibst.
So ihre Worte, immer wieder.
Es war eine ähnliche Situation, wie Wilhelm Loske sie mit seiner Mutter in Breslau erlebt hatte. Als sie später darüber redeten, festigte diese Übereinstimmung ihres Schicksals
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