L wie Liquidator
Wirtschaft gutgeht, geht es der ganzen Nation gut. Uns allen. Bis jetzt hat die Konjunktur so vor sich hingekümmert, aber jetzt geht es aufwärts! Die Konjunktur ist nämlich wie ein Freiballon. Sie kann in ungeahnte Höhen steigen – wenn man konsequent alle Ballast-Existenzen abwirft, die den Aufstieg hemmen.«
Paulsen: »›Ballast-Existenzen‹ … na toll! Solche Begriffe hat man früher im Stürmer verwendet. Offensichtlich haben Sie nichts dazuge …«
Wittek: »Schieben Sie mir doch nicht den Stürmer unter, ausgerechnet Sie mit Ihrem Schnüffel-, Schmutz- und Sudel-Journalismus. Was Sie da betreiben, das sind doch öffentliche Hinrichtungen, standrechtliche Rufmorde durch die IG Lug und Trug.«
Kratochvil (räuspert sich): »Vielleicht sollten wir an dieser Stelle Herrn Lehmann einschalten. Herr Lehmann … Was haben Ihre Forschungen auf dem wirklich neuartigen Gebiet der Kryo-Soziologie ergeben?«
Lehmann: »Ja, zunächst einmal ist es erstaunlich, wie schnell die Kryo-Reform in den Alltagssprachgebrauch der Menschen eingegangen ist. Da gibt es unzählige Redensarten, Witze, Graffitis usw., die ich unter dem Sammelbegriff Kryo-Folklore zusammenfassen möchte … Bei modernen Müttern hat zum Beispiel der Schwarze Mann ausgedient, sie drohen ihren Kindern mit den Worten: ›Noch ein Mucks, und du kommst in die Kühlbox.‹ Für die Kühllager hat der Volksmund bereits den Begriff ›Kryosibirsk‹ geprägt, die Transportzüge dorthin bezeichnet man als ›Gefrierfleisch-Expreß‹. Die Kühlkammern sind als ›Dornröschensarg‹ bekannt. In Italien, wo man ja ebenfalls die Kryo-Reform durchführen will, gibt es bereits eine Comic-Figur namens Renato Gelato, die in einem großen Eisblock lebt. Gelegentlich hört man auch die Bezeichnung ›Semifreddo‹ für einen Kühlschläfer. In England bezeichnet man sie als ›Frosties‹ oder auch ›Coolies‹, was ein bißchen doppeldeutig ist, denn einerseits bedeutet es, kalt, also cool, zu sein, andererseits heißt es auch Kuli …«
Paulsen: »Womit wir endlich wieder beim Thema wären. Erstaunlich, mit welcher beschränkten Faktenhuberei man eine akademische Karriere machen und dabei meilenweit an dem vorbeizielen kann, um das es eigentlich geht.«
Wittek: »Und worum geht’s denn nun, lieber Herr Inquisitor?«
Paulsen: »Es geht darum, daß Menschen wie Überschußware eingefroren werden. Ein Müllberg aus unbrauchbarem Menschenmaterial. Es geht darum, daß der Staat das alles im Interesse und im Auftrag der Industrie organisiert und legalisiert. Staatsmonopolkapitalismus reinsten Wassers. Es geht auch darum, daß dieses riesige Kühlprojekt gigantische Strommengen braucht. Damit sind unsere Stromerzeuger mit ihren Atomkraftwerken endlich ausgelastet. Endlich entspricht der Bedarf den Prognosen. Damit ist den Kritikern das Maul gestopft.«
Dr. Schröder-Lichtenberg: »Das ärgert Sie wohl, wie?«
Paulsen: »Ach woher! Ich weiß doch, daß es Ihre Partei schon immer verstanden hat, ihre Ziele auf diese Weise durchzusetzen. Die normative Kraft des Faktischen – kennen wir doch! Nein, mich gruselt’s eher, wenn ich in die Zukunft schaue. Bald wird man nicht nur Arbeitslose einfrieren, sondern auch Leute, die zuwenig verdienen oder zuwenig konsumieren, und dann kommen ganz demokratisch die restlichen ›Ballast-Existenzen‹ dran: Wehrdienstverweigerer, Asylanten, Demonstranten, Ladendiebe …«
Wittek: »Keine schlechte Idee, Herr Paulsen, das auch politisch anzuwenden. Wie eine rote Karte im Fußball oder eine Zeitstrafe im Eishockey. So eine Art Vorwarnung für Stänkerer und Unruhestifter. Vielleicht sollte man auch Sie mal für einige Zeit auf Eis legen, Herr Paulsen, damit Sie sehen, wenn Sie wieder rauskommen, daß alles nur halb so schlimm geworden ist, wie Sie gedacht haben.«
Bauer: »Also ich finde …«
Kratochvil: »Herr Wittek, bitte keine persönlichen Angriffe.«
Paulsen: »So ein Popanz kann mich gar nicht angreifen. Wenn der Herr Wittek seine Meinung kundtut, das ist halt, wie wenn ein Mülleimer umfällt. Dann stinkt’s eben.«
Kratochvil: »Meine Herren, ich muß Sie nachdrücklich auffordern, persönliche Diffamierungen …«
Die Aufzeichnung bricht jäh ab. Es ist unklar, ob es sich um eine technische Panne oder um einen harten Schnitt handelt.
Das Gesetz wurde wie erwartet in der darauffolgenden Maiwoche verabschiedet. Wenige Monate später war es soweit. Die Kryo-Reform wurde, wie es das zuständige Ministerium
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