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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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formulierte, »zur Durchführung gebracht«. (Im weiteren Verlauf wird der Kommentar mit zeitgenössischen Aufnahmen unterlegt.) Die Aktion begann am 1. September und wurde binnen drei Wochen vollendet. Danach hatte die Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin 3 Millionen Einwohner weniger – oder, genauer gesagt, sie hatte 58 Millionen ›Aktiv-Einwohner‹ und 3 Millionen ›Passiv-Einwohner‹.
    Im Ausland wurde die deutsche Aktion mit großem Interesse verfolgt. Tagelang war sie die Top-Meldung in allen Medien, fand ihren Widerhall auf den Titelseiten praktisch aller Zeitschriften. Innerhalb derselben Woche berichteten sowohl TIME als auch NEWSWEEK unter den Titeln ›Operation Deep Freeze‹ bzw. ›The Big Sleep‹ über das Phänomen aus Germany.
    Die positiven Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, den Staatshaushalt und die diversen Versicherungsträger waren eindrucksvoll und schon nach kurzer Zeit festzustellen. Bereits nach vier Wochen hatte sich die Kryo-Reform, gesamtwirtschaftlich gesehen, amortisiert. Praktisch alle Länder zogen nach, ungeachtet ihrer unterschiedlichen ideologischen Ausrichtung. Der Lizenzgeber der Kryo-Technik, die medizintechnische Tochter-GmbH eines großen deutschen Unternehmens, katapultierte die Firmengruppe in der Umsatz-Hitparade der weltweit größten Konzerne auf den dritten Platz.
    Machen wir nun einen Zeitsprung von einigen Wochen. Dabei stellen wir fest, daß inzwischen die öffentliche Diskussion zwischen Kryo-Gegnern und Kryo-Befürwortern praktisch eingeschlafen war. Dies mag angesichts der erbitterten Auseinandersetzungen, die im Vorfeld der Entscheidung geführt wurden, erstaunen. Aber die relative Ruhe ist leicht zu erklären. Da waren zunächst die klaren Mehrheitsverhältnisse in der öffentlichen Meinung. Naturgemäß waren die schärfsten Gegner der Kryotechnik jene, die selbst vom Einfrieren bedroht waren. Mit dem zügigen Fortschreiten der Kryo-Reform wurde die Zahl der Gegner naturgemäß immer geringer, da sie peu à peu in den Kältekammern verschwanden. Die Zurückbleibenden standen der Kryotechnik überwiegend positiv gegenüber: 85% befürworteten sie, 5% hatten keine Meinung dazu, und nur 10% waren dagegen. Das Problem hatte sich auf demokratische Weise von selbst gelöst.
    An die Stelle grundsätzlicher Pro-und-Kontra-Diskussionen traten Auseinandersetzungen über Detailprobleme, die man bei der Verabschiedung des Kryo-Gesetzes nicht ausreichend bedacht hatte. Typische Fragestellungen lauteten etwa:
    Gelten die im Kälteschlaf verbrachten Jahre für die Rentenversicherung als beitragslose Zeiten?
    Was geschieht mit Kapitallebensversicherungen oder Bausparverträgen, die zur Auszahlung fällig werden, während der Betreffende im Kälteschlaf liegt?
    Was geschieht mit den Häusern, Autos und sonstigen Vermögenswerten der Schläfer? Soll man sie in flüssiges Kapital verwandeln und auf die Konten der Schläfer einzahlen? Oder soll eine staatliche Vermögensverwaltung treuhänderisch tätig werden? Oder soll man die Schläfer juristisch als »vorübergehend tot« erklären, so daß sie von den Hinterbliebenen beerbt werden können – mit Rückzahlungsgarantie der Erben, wenn der Schläfer wieder erwacht? Wie kann der wiedererwachte Schläfer seine garantierte Rückzahlungssumme einklagen?
    Soll man die von verschiedenen sozialen Organisationen geforderte ›Weihnachts-Aktion‹ durchführen und die Schläfer jeweils zu Weihnachten für drei Tage auftauen, damit sie das Fest besinnlich im Kreis der Familie begehen und mit ihren Lieben Geschenke austauschen können?
    Diese Kette von Detailproblemen ließe sich beliebig verlängern. Die Gerichte und die Ministerialbürokratie hatten einen ungeheueren Arbeitsaufwand zu bewältigen, eine Aufgabe, die sie im Lauf der Jahre mit Bravour lösten.
    Auch die EG sah sich schweren Belastungen ausgesetzt. Praktisch alle Mitgliedsländer beschuldigten sich gegenseitig der Wettbewerbsverzerrung zuungunsten der anderen Länder. Vor allem Großbritannien, Frankreich und Belgien versuchten durch hohe Einfrierzahlen ihre Staatsfinanzen zu sanieren und mittels dadurch möglicher Steuersenkungen und Subventionen ihre Position im internationalen Wettbewerb zu verbessern. Andere Länder zogen nach. Erst nach langwierigen Verhandlungen konnte man sich in Brüssel auf jährlich neu festzulegende Einfrierquoten für die einzelnen EG-Mitgliedsländer einigen.
    Aber kehren wir nun von den großen, etwas abstrakten

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