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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Zusammenhängen zu den konkreten Alltagsgeschehnissen zurück. Schauen wir uns in einer der damaligen Endlagerstätten um, die natürlich kaum etwas mit unseren heutigen, modernen Kryo-Centern gemein haben. Der folgende Bericht aus den Kindertagen des Kryo-Zeitalters zeigt sehr schön, wie fasziniert man damals noch von den kühlen Kathedralen des sozialen Fortschritts war, die heute für uns so selbstverständlich sind.
     
    Innenaufnahme. Der Reporter steht in einer großen, mit weißem Kunstmarmor getäfelten Halle. Er spricht leise und pietätvoll.
    »Ich befinde mich hier in der Eingangshalle zum Arbeitslosen-Entsorgungslager Süd IV in Hammelburg, Unterfranken. Der kleine Ort an der Saale wurde als einer der Standorte ausgewählt, weil man sich einerseits wirtschaftliche Impulse für die strukturschwache Region am Rande der Rhön erhofft und weil andererseits durch die große Bundeswehrgarnison eine ausgezeichnete verkehrsmäßige Infrastruktur besteht. Bitte begleiten Sie mich jetzt auf meinem Rundgang durch dieses eisige Wartezimmer zur Zukunft.«
    In der nächsten Einstellung zeigt die Kamera den Reporter, wie er durch die Gänge der Lagerhallen wandert, hin und wieder stehenbleibt, um das eine oder andere Detail hervorzuheben.
    »Es fällt schwer, durch diese Gänge zu gehen, ohne dabei eigentümlich berührt zu sein. Die Atmosphäre ist schwer zu beschreiben. Dieser Ort hat etwas vom sagenhaften Kyffhäuser an sich, vom Tor zum Hades, von einer Wandelhalle ins Jenseits, er erinnert an das Lagerhaus von Madame Tussaud’s mit all diesen wächsernen, unbeweglichen Gestalten in ihren gläsernen Schlafkammern. Man denkt unwillkürlich an die vielen individuellen Schicksale, die hier in einem Niemandsland zwischen Leben und Tod für unbestimmte Zeit gespeichert sind.«

    Die Kamera schwenkt über die stillen Körper, die hinter den Panzerglasscheiben verschwommen und entrückt erscheinen; ein langsamer Zoom in die Weitwinkelstellung zeigt schließlich die gigantischen Dimensionen der Anlage: ein zwanzigstöckiges Aquarium mit zahllosen Gängen, die sich im Hintergrund im Halbdunkel verlieren.
    »Die Technik ist perfekt: permanenter elektronischer Service-Check aller wichtigen Daten, ein automatisches Förder- und Verteilersystem für Zu- und Abgänge, dreifach redundante Sicherheitssysteme gegen Stromausfall, Wassereinbruch und tektonische Verwerfungen. Eigentlich alles sehr prosaisch, und doch ist diese undefinierbar weihevolle Stimmung allgegenwärtig – selbst hier im Lagerbereich, den normalerweise nur das Personal des Kryo-Centers betreten darf. Noch wesentlich emotionaler und weihevoller geht es vorne in den Besuchsräumen zu, wo die Angehörigen Abschied von ihren Lieben nehmen oder auch während der Besuchszeiten wieder einen Blick auf sie werfen. Um eine möglichst positive Tönung zu erreichen, wurde die Ausstattung der Besuchsräume nach psychologischen Kriterien segmentiert, die ein optimales Wohlbefinden aller Beteiligten bei Abschied oder Besuch sicherstellen. Es gibt heimelig-rustikale Zimmer mit viel Holz, aber auch prunkvoll-klassizistische Räume mit Säulen und Podesten, es gibt auch völlig unmöblierte, karge Kammern mit einem meditativen, fast mönchischen Charakter, andererseits aber auch sehr witzig eingerichtete, farbenfrohe Räume für eine mehr jugendliche Zielgruppe.«
    Die Kamera fährt in einen der zuletzt erwähnten Räume, dessen Ausstattung an eine Discothek erinnert. Die letzten Takte von Vangelis’ Chariots of Fire verklingen, und ergriffen aber fröhlich wirkende Jugendliche verlassen den Besuchsraum, während neue Gäste hineindrängen.
    »Die Besucher können sich die Musik für ihren kurzen Aufenthalt selbst auswählen. So wird eine maximale emotionale Aufladung und Überhöhung der Situation erzielt, und jeder Besucher trägt ein Erlebnis mit nach Hause, an das er sich gerne erinnern wird.«
    Die Musik klingt auf, während auf einem regenbogenfarben gestreiften Katafalk ein jugendlicher Arbeitsloser in seiner gläsernen Schlafkammer aus dem Boden steigt. Die jungen Besucher, die das Glück hatten, eine Lehrstelle zu finden, beobachten den Vorgang in besinnlichem Schweigen. Klar und tröstend klingt der Text des Wunschliedes durch den Raum.
     
    »… there will be sunshine after rain,
    there will be laughter after pain,
    why worry now …«
     
    Bild und Musik werden langsam ausgeblendet.
     
    … Schön, nicht wahr? Aber nicht immer gingen die Begleiterscheinungen der

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