L wie Liquidator
dem Bildschirm, der Ton wird langsam eingeblendet.
»… kann man die Folgen der Kryo-Reform schlagwortartig folgendermaßen zusammenfassen: In der Wirtschaft blieb der erwartete Zinsgewinn für die Schläfer aus. Da von den Schläfern bei Beginn der Aktion ungeheure Summen als Geldanlage bei den Banken deponiert wurden, sank der Zinssatz wegen des Überangebots an Geld auf ein noch nie dagewesenes Minimal-Niveau. Da die Kredite damals ebenfalls enorm günstig wurden, erlebte die Bundesrepublik einen gewaltigen Investitions- und Konjunktur-Boom, in dessen Folge die Inflationsrate drastisch stieg, so daß die prozentuale Geldentwertung schließlich höher war als der einstmals fixierte Zinssatz für das Schläfer-Kapital. Wenn die Schläfer erwachten, mußten sie feststellen, daß sie real weniger besaßen als zu Beginn ihres Kryo-Schlafs. Viele von ihnen mußten deshalb umgehend wieder eingeschläfert werden, um überflüssige Soziallasten zu vermeiden. Inzwischen hat sich die Netto-Auftauquote bei 0,4% jährlich stabilisiert. Die wirtschaftliche Situation der Banken als Anlageverwalter des Schläfer-Kapitals hat sich außerordentlich verbessert. Unter den 20 größten deutschen Unternehmen befinden sich heute 12 Großbanken. Die positive Konjunktur- und Investitionssituation hat zu beispielloser ökonomischer Prosperität geführt. Der anfangs befürchtete Konsumausfall durch die verringerte Zahl von Konsumenten trat nicht ein, da der Verbrauch mengenmäßig zwar abnahm, aber wertmäßig zunahm. Die Steuer- und Abgabensenkungen mit den daraus resultierenden höheren verfügbaren Einkommen führten zu einem qualifizierten Konsum auf hohem Niveau.
Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 0,03%. Die Zahl der Asylbewerber ist schon seit Jahren auf Null gesunken. Politische Unruhen finden nicht mehr statt, da praktisch das gesamte Protestpotential in den Kühlhäusern gebunden ist. Im Gesundheitswesen wurden dramatische Kostendämpfungen erreicht, da alle Kranken mit ernsthaften Beschwerden und aufwendigen Therapien zunächst eingefroren werden, bis eine sichere und preiswerte Behandlungsmethode entwickelt wird; leider wurde bei vielen Krankheiten noch kein entscheidender therapeutischer Durchbruch erzielt. Durch die drastische Abnahme der Bevölkerungszahl auf nunmehr 30 Millionen sank auch die Umweltbelastung. Viele ökologisch bedingte Einschränkungen des täglichen Lebens – z.B. Geschwindigkeitsbegrenzungen – konnten wieder aufgehoben werden. Jetzt gilt wieder ›Freie Fahrt für freie Bürger‹. Die geringe Bevölkerungsdichte – ein Trend, der durch den Kryo-Knick noch unterstützt wird – erhöht den Freizeit- und Erholungswert beträchtlich; Staus und überfüllte Freizeitzentren gibt es nicht mehr. Diese Aufzählung ließe sich noch beliebig fortsetzen. Die Tendenz ist jedoch klar erkenntlich. Begnügen wir uns also damit, festzuhalten, daß man das Fazit der Kryo-Reform nur als uneingeschränkt positiv bezeichnen kann.«
Und dem ist nichts hinzuzufügen. Lassen Sie uns diesen Bericht deshalb mit einer Szene beenden, die uns alle hier sehr berührt hat, und Ihnen zu Hause am Bildschirm wird es nicht anders ergehen. Das Ereignis, über das wir berichten, fand vor wenigen Tagen statt und war bisher einmalig auf der Welt. Wir haben es für Sie aufgezeichnet.
Innenaufnahme. Man sieht einen überreich geschmückten Saal, in dem drei gläserne Schlafkammern auf blumengeschmückten Podesten stehen. Ein Conferencier in einem silbrig glänzenden Smoking eilt auf die Bühne.
»Guten Abend und willkommen im Großen Festaal des AEL Berlin-Neukreuzberg. Heute erleben wir eine Familienfeier ganz besonderer Art. Es handelt sich um die Familie Büler, in der die Frauen traditionsgemäß besonders früh für Nachwuchs sorgen. Machen Sie sich auf eine Überraschung gefaßt.« Er gibt ein Zeichen.
Der Auftakt aus ›Also sprach Zarathustra‹ tost durch den Saal. Während die Pauken dröhnen und die Fanfaren schmettern, beginnen Nebel aus flüssigem Sauerstoff von den Podesten herunterzufließen und über den Boden zu wallen. Ein kühler Wind läßt die Zuschauer schaudern. Mit dem Verklingen des Orgelakkords öffnen sich die drei Särge.
»Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen vorstellen: Sultan Büler!« Unter verhaltenem Applaus steigt eine hübsche, etwa dreißigjährige Frau aus ihrem Sarkophag. »Und nun Adalet Büler – ihre Tochter!« Beifall und verblüfftes Gemurmel, als sich die zweite Frau
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