Labyrinth 02 - Das Labyrinth jagt dich
die Angst hatten sie in diesem Moment, als er sie einfach nur festgehalten hatte, verlassen. Mary war nicht dumm, sie würden wiederkehren, aber nicht jetzt. Der Augenblick gehörte León und ihr. Als sie sich vorbeugte, um ihn zu küssen, erwachte León.
»Tut mir leid«, flüsterte Mary. »Ich wollte dich nicht wecken.«
Er beugte sich über sie und küsste sie. Seine Lippen schmeckten nach Salz und sie wollte mehr davon, aber León entzog sich ihr. Auf einen Ellenbogen abgestützt, lag er neben ihr und sah sie an. Sein Blick wanderte über sie und es war, als streichele er sie, ohne sie zu berühren. Zum ersten Mal konnte sie es ertragen, dass jemand anderes ihren Körper betrachtete. Leóns Finger strich eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Er tat es unendlich sanft.
Sie sah ihn an, blickte tief in seine Augen. »Du bist so schön. Weißt du das?«
Er stieß ein leises Lachen aus. »Ich bin ein lebendes Bilderbuch des Schreckens und du findest mich schön.«
»Ja«, hauchte sie. »Die Bilder sind furchtbar, keine Frage.« Sie musste grinsen. »Aber dich finde ich schön.«
León wich ihrem Blick zunächst aus, doch schließlich wandte er sich wieder zu ihr. Mary hielt die Luft an und plötzlich nahm sie wieder die Umgebung mit all ihren Unvollkommenheiten wahr. Das Zimmer war nur ein schäbiges Zimmer und nicht mehr der Himmel auf Erden. Stattdessen blieb Marys Blick nun an dem abgewetzten Bettlaken hängen und sie roch den Geruch der alten Möbel. Sie schwiegen, bis die Stille in Marys Ohren dröhnte, aber schließlich räusperte sich León.
»Ich bin nicht schön, Mary. Und erst recht nicht die Bilder, die meinen Körper bedecken. Du nennst sie furchtbar. Aber sie erzählen mein Leben.«
»Ist dein Leben außerhalb von dem hier denn wirklich so trostlos?« Mary versuchte zu begreifen, was León da sagte.
»Ich … ich kenne diese Welt hier, ich kenne sie, weil ich genau dieses Leben der Gangs und der Gewalt schon mal erlebt habe. Tatsächlich besteht all das, an das ich mich erinnere, aus nichts anderem als Gangs und Gewalt und Tod. Rache und Blut …« Er stockte. Mary bemühte sich, sich ihren Schrecken nicht anmerken zu lassen.
»Mary. Ich … ich habe einen Menschen getötet. Vorher, in meinem früheren Leben. Ich musste es tun, seine Gang hat meinen Vater getötet, es war wichtig, sie nicht davonkommen zu lassen. Aber … er war doch nur ein Junge, so alt wie ich, jünger sogar.« León wich ihren Blicken aus. Aber sie ließ ihn weitersprechen und sagte nichts. »Meine hombres haben mich aufgenommen, als meine Mutter mit mir und meinen Geschwistern allein zurückblieb. Sie waren meine Familie, verstehst du. Ich habe meine Brüder aus der Gang geliebt und … für ihren Schutz musste ich mich ihren Regeln unterwerfen.« Er atmete tief ein. »Und ich tat es mit Freuden. Mit Freuden, Mary.« Seine Stimme bebte. »Erst jetzt fällt mir das ein und ich begreife, wie schrecklich mein früheres Leben gewesen ist. Das hier«, er lachte leise auf, »das hier ist ein Klacks dagegen. Und außerdem …« Mary wandte ihren Blick von dem Tattoo auf seiner Stirn ab, den vier Zeichen, die am rätselhaftesten von allen waren. Ihre Blicke fanden sich. »… und außerdem habe ich jetzt dich, Mary. Endlich kann ich kämpfen, für etwas Gutes. Denn ich habe jemanden gefunden, den ich beschützen kann – dich.«
Mary spürte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. Sie räusperte sich, doch ehe sie etwas erwidern konnte, legte León ihr einen Finger auf die Lippen. »Sag nichts, bitte sag einfach, dass ich das für dich tun darf, ja? So lange wie nötig, verspreche ich, dass ich dich beschützen werde.«
Mary brachte kein Wort heraus, so sehr musste sie mit den Tränen kämpfen. Sie nickte stumm. Wie um sein Versprechen einzulösen, legte León seinen Arm um sie und zog sie näher zu sich heran.
D ie Dämmerung war längst hereingebrochen, als Mary und León an die Wohnzimmertür am anderen Ende des Flurs klopften und eintraten. Sie fanden Jeb und Jenna, beide saßen auf dem verschlissenen Sofa und blickten auf, als sie das Zimmer betraten. León konnte nicht erkennen, ob sie geschlafen hatten, denn beide waren komplett angezogen, sie trugen T-Shirts, die León noch nicht kannte, und hatten sogar die Stiefel schon an.
Noch immer schmeckte er den letzten Kuss auf seinen Lippen. Die letzten Stunden waren unglaublich gewesen. Marys Gefühle für ihn waren echt und auch er durfte zum ersten Mal so etwas
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