Labyrinth 02 - Das Labyrinth jagt dich
wie Liebe empfinden. Aber etwas hatte sich am Schluss zwischen ihnen verändert. Wer weiß, wie viele Stunden wie diese ihnen noch geschenkt werden würden. León nahm Marys Hand und drückte sie sanft. Ihm wurde schwer zumute, wenn er daran dachte, dass ihre Zeit begrenzt war, dass es wahrscheinlich keine Zukunft für sie gab.
»Alles klar?«, fragte Jeb und sah ihn eindringlich an. León war es gewohnt, seine Gefühle nicht zu zeigen. Das würde nur zu Fragen führen und dann zu neuen Problemen, also zwang er sich zu einem Grinsen.
»Uns geht es gut«, antwortete er.
»Ja«, bestätigte Mary tapfer. Er hatte vorhin bemerkt, dass sie mit den Tränen kämpfte. León spürte Jennas Blick über sich und Mary gleiten und für einen Moment entstand eine unbehagliche Stille. Keiner wusste, wie es jetzt mit ihnen weitergehen sollte.
»Wie spät ist es?«, fragte León in die Stille hinein.
Jeb deutete mit einem Nicken zu einer alten Wanduhr, die einer Sonne nachempfunden an der Wand hing und leise tickte.
»Gleich Mitternacht.« Jeb seufzte. »Wir sollten los.«
»Seid ihr bereit?«, fragte Jenna.
»Ja«, sagten Mary und er fast wie aus einem Mund.
Jenna erhob sich. Sie fasste nach einem Stoffbeutel. »Ach ja, Carmelita war zwischendurch bei uns und hat uns Proviant gegeben. Brot und Schinken und eine Flasche Wasser für jeden. Und: neue Klamotten. Sie hat ein paar Sachen rausgesucht, für jeden ein T-Shirt. Ich glaube, sie ahnt etwas, spürt, dass etwas mit uns nicht stimmt, aber sie hat nicht nachgefragt, sondern uns Gottes Segen auf unserem Weg gewünscht.«
»Wie geht es Fernando?«, fragte Mary.
»Anscheinend gut, er schläft immer noch.«
»Können wir uns noch von Carmelita verabschieden?«
Jenna schüttelte den Kopf. »Sie hat sich zurückgezogen. Ich glaube, sie möchte nur so viel wie nötig von uns wissen. Kein Wunder.« Sie lächelte verhalten.
Niemand antwortete etwas darauf, stattdessen zog sich Mary das blassblaue T-Shirt, das Jenna ihr gegeben hatte, an und band sich ihr Flanellhemd um die Hüfte, wie Jeb und Jenna es getan hatten. León streifte sich ebenfalls das schwarze, ausgewaschene T-Shirt über. Es hatte einen Kragen und war etwas eng, aber León war froh, endlich etwas Leichteres tragen zu können.
Jenna warf sich den Beutel über die Schulter und verließ als Erste das Wohnzimmer. Die anderen folgten ihr.
Als sie vorsichtig vor das Haus traten, sahen sie, dass der Himmel brannte.
Über der Stadt lag dichter schwarzer Rauch. Wohin sie auch sahen, flackerten Flammen auf. Die ganze Stadt schien zu brennen. Orangefarbene Feuerzungen leckten nach dem Himmel, während sie am Boden Häuser und Autos fraßen.
Die Luft schmeckte nach Metall und Gummi. Jenna schob ihren Jackenärmel vor den Mund, als der beißende Geruch ihre Lunge erreichte und sie keuchen ließ. Es war merkwürdig still hier draußen. Nur ein Murmeln lag in der Luft und das trockene Knistern des Feuers. Da die Rollläden im Haus unten gewesen waren, hatten sie nichts davon mitbekommen, was sich auf der Straße abspielte.
Offensichtlich war die Nacht die Zeit der Gangs, die aus ihren Verstecken herauskamen, um die Stadt zu terrorisieren.
Wieso muss es immer nur schlimmer werden?, dachte Jenna, während sie die Straße entlangblickte und sah, wie sich das Feuer durch das Viertel fraß.
Neben ihr keuchte Mary. »Scheiße.«
León schwieg und Jeb hatte die Stirn in Falten gelegt. Die Gesichter ihrer Freunde glänzten im Flammenschein.
Jenna blickte zum Himmel. Sie musste sich im Kreis drehen und es dauerte eine ganze Weile, bis der Qualm ein Stück vom Himmel freigab, auch wenn es nur für einen Wimpernschlag war.
Und dann sah sie ihn und deutete aufgeregt nach oben.
Den Stern.
Weit entfernt. Dort, wo noch mehr Feuer wüteten.
»Sieht aus, als müssten wir durch die halbe Stadt hindurch«, sagte Jeb.
»Ich glaube nicht, dass das unser Problem ist«, meinte Jenna. »Es scheint, als würden die Tore außerhalb dieses Viertels liegen. So, wie es aussieht, müssen wir erst mal einen Weg finden, durch die Blockade zu kommen.«
»Und wenn wir hingehen und mit den Polizisten an den Straßensperren reden?«, meinte Mary.
»Nein, das geht auf keinen Fall. Wir werden gesucht, schon vergessen? Und selbst, wenn sie keinen Haftbefehl gegen uns hätte, gibt es ja offenbar genug Menschen, die aus dem Viertel herauswollen, und wie wir an Fernando gesehen haben, zögern die Männer nicht, auf Unbewaffnete zu schießen, selbst
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