Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Norbert aus.
Prof. Dr. Zimmers Interesse schien ein klein wenig zu erlöschen. Er war ein Ästhet der Psychoanalyse, ihn interessierten verschüttete Triebkonflikte, die Ursachen von all dem im Jetzt. Das Jetzt selbst interessierte ihn deutlich weniger. "Todesangst", bohrte er. "Was für eine Art Tod fürchten Sie? Fürchten Sie, verschluckt zu werden oder eher aufgespießt?"
Norbert antwortete: "Ich fürchte nicht eigentlich das Sterben. Nicht den Augenblick des Todes. Es ist mehr eine Angst vor dem Danach. Ja, ich fürchte, verschluckt zu werden und dann in irgendwas hineinzugeraten, wo ich mich nicht mehr bewegen kann und wo mich Dunkelheit umhüllt und wo ich ganz allein bin. Irgend so was ganz Kindliches also."
"Eine oral- masochistische Angst", murmelte der Professor. "Angst und gleichzeitig die unüberwindliche Lust, einer allmächtigen Übermutter völlig ausgeliefert zu sein, die ihr Kind, also Sie, nicht hergeben will, sondern es notfalls eher verschluckt. Sie müssen als Kind Schlimmes erlebt haben", meinte der Professor mitfühlend.
Norbert konnte sich nicht recht erinnern. Er wusste, dass er im Augenblick Schlimmes erlebte. Seine dunklen Augen richteten sich offen auf den Professor: "Ich verstehe. Sie wollen mir sagen, dass ich für das, was geschah, gewissermaßen prädisponiert war. Dass ich also die schlimmen Dinge der Gegenwart unbewusst aus der Sicht kindlicher Ängste interpretiere."
"Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen", sagte der Professor und betonte nun jedes einzelne Wort. "Lassen Sie uns einmal die Vorstellung ausprobieren, sie inszenierten diese Geschehnisse irgendwie selbst und zwar aufgrund Ihrer frühkindlichen Erlebnisse."
In diesem Augenblick verlor Norbert jegliches Vertrauen in Prof. Dr. Zimmer. Wütend stand er auf:
"Ich esse keine Blaumeisen. Ich serviere sie mir auch nicht unbewusst selbst", schrie er und verließ einen bekümmerten Professor, der sich sehr missverstanden fühlte. Aber nach einiger Zeit intensiven Nachdenkens begann Prof. Dr. Zimmer sich kichernd die Hände zu reiben und murmelte vor sich hin: "Wunderbar! Der Widerstand in ihm ist erwacht. Er beginnt sich zu wehren. Damit lässt sich arbeiten." Zufrieden verließ er sein Arbeitszimmer.
Norbert hingegen fühlte sich in keiner Weise so vergnügt wie sein Arzt. Er verbrachte eine schlaflose Nacht mit ausnehmend wirren Träumen. Der nächste Vormittag verging mit etlichen Kuranwendungen für Norbert in einer Art düsterem Schleier, der Nachmittag eher gelangweilt. Als das Abendessen näher rückte, zog Norbert sich, von einem gewissen Trotz erfüllt, den wärmenden Mantel an und machte sich allein in den düster drohenden Winterwald auf. Es wurde schon langsam dunkel, aber der Schnee auf den Wegen erwies sich als eine Lichtquelle, die sich sicher noch eine Stunde oder länger als hilfreich erweisen würde. Kaum hatte Norbert den Waldrand erreicht, überraschte ihn ein böser Hustenanfall. Ihm war, als schraube ihm jemand mit einer eisernen Klammer in der Höhe seines Herzens den Brustkorb zusammen. Er brauchte einige Minuten, um sich frei zu husten, mit diesen den ganzen Körper durchlaufenden tiefen Erschütterungen, die Knochen und Fleisch voneinander zu trennen scheinen.
Zusätzlich zum Schmerz und der Atemnot war Norbert wie besessen von der Angst, ihn könne jemand in diesem schrecklichen Zustand beobachten. Als der Anfall schließlich abgeebbt war, überlegte Norbert erschöpft, ob er nicht besser wieder umkehren sollte.
Aber irgendwie scheute er die fragenden Blicke der anderen Patienten, die vielleicht sogar noch Spuren frisch gefrorenen Speichels auf seinen Mantelaufschlägen feststellen könnten. Das durfte nicht sein. Auf keinen Fall. Norbert raffte sich auf und wankte auf dem weiß leuchtenden Weg in den dunklen Schlund des Waldes hinein. Mit schweißüberströmtem Gesicht, das er sich hektisch mit dem vom kalten Nebel klammen Ärmel immer wieder abwischte, und fiebrig feuchtem Körper unter der dicken Winterkleidung, trieb es ihn vorwärts, kaum wahrnehmend, wo er hinstolperte.
Abgerissene Gedankenfetzen durchpflügten sein aufgeregtes Denken. Es ging um "krank" und "Inszenierungen". Auch dieser Wald war krank. Im ganzen Land war alles und jeder krank. Mit einer irrsinnigen kollektiven Kraftanstrengung wurden die Krankheiten verborgen. Und wo das nicht mehr möglich war, wurden die Krankheiten in großen, sauberen, sterilen Krankenhäusern sozusagen aus dem Verkehr gezogen und
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