Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
verschwunden.
Die Brause in der Nachbarkabine lief ununterbrochen weiter.
Norbert wurde schwindelig. Er streckte seine Hand aus, um die gläserne, von innen beschlagene Schiebetüre zu öffnen. Ein ungeheures Gewicht schien sich auf seine Arm zu legen und ihn nach unten zu ziehen. Jetzt hatte er den Knopf gefasst, die Tür glitt zurück.
Die Dusche war leer, nur die Brause lief.
Norbert wankte. Deshalb war er hier im Sanatorium. Weil ihm solche Dinge geschahen. Norbert wandte sich abrupt ab und suchte fluchtartig sein Zimmer auf, um sich für das Abendessen umzuziehen.
Etwa achtzig Gäste fasste das Haus, das modern und gepflegt mitten im Hochsauerland lag, umgeben von unzähligen Tannen und Fichten, die den sauren Regen des letzten Jahrhunderts bis jetzt noch überlebt hatten.
Norbert zählte mit seinen einunddreißig Jahren bei weitem nicht zu den jüngsten Gästen. Das Thema Krankheit unterlag in diesem Hause einem ausgesprochenen Tabu, was von der Anstaltsleitung noch unterstützt wurde. Man bemühte sich, das positive Flair einer Art Reisegesellschaft zu fördern, als wären alle Menschen, die sich hier trafen, ihres puren Vergnügens wegen unter diesem Dach. Norbert erkannte jedoch in vielerlei Gehabe und Bewegungen, sowie in so manchen unbeobachtet geglaubten Verzerrungen in den Gesichtszügen der ihn umgebenden Menschen, das Kranke in dem Maße, wie er es an sich selbst so gerne zu übersehen geneigt war. So gerne hätte er Abschied genommen von den eigenen morbiden Erlebnissen und Gefühlen. Er hätte sich so gerne dem reinen und positiven Denken dieses Hauses angeschlossen. Aber es gelang ihm nicht immer.
Während Norbert sich mit elastischen Schritten dem Speisesaal näherte, nunmehr zum Essen umgekleidet, machte er sich Gedanken über ein sonderbares Phänomen, nämlich, dass er sich sofort gesunder fühlte, wenn er Kranke sah. Als wenn eine starke Kraft unter seiner Oberfläche alle verbliebenen Energien beim Anblick von Kranken mobilisierte, mit dem Motiv, ihn nur ja nicht, nie im Leben, auf dieses abstoßende Niveau des Krankseins absinken zu lassen. Geschickt war diese innere Kraft in der Lage, Norbert die Erinnerungen an all die durchkeuchten und durchfieberten Nächte vergessen zu lassen, in denen ihn alle Hoffnung verlassen hatte, als Lebender aus ihnen hervorzugehen. Erst dem Kurarzt Prof. Dr. Zimmer, selbst weit in den Sechzigern, braungebrannt mit weißumlohtem Haupte, gelang es im Eingangsgespräch zur Kur, Norbert mit dem Lächeln des eleganten weisen Gewinners den Gedanken ans Überleben, ja, sogar an ein einigermaßen glückliches Leben zurückzugeben. Die Zeit des Zweifels lag nunmehr schon vierzehn Tage zurück. Ohne große Anstrengung gelang es Norbert, die Fesseln der Krankheit, die in ihm wütete, zunächst abzustreifen. Sein Gesundungsprozess verlief linear. Bei vielen Krankheiten, nicht nur denen des Gemütes, ist es so, dass sie sich erst realisieren, wenn sie Gegenstand der Gedanken werden. Man könnte sagen: Je mehr Gedanken, vor allem pessimistische Gedanken, über die Krankheit, desto kranker wird der Betreffende. Gelingt es, ein Bollwerk positiver Gedanken aufzubauen, kann es sein, dass sich die Krankheit dahinter gewissermaßen verliert. Dieses Bollwerk schien bei Norbert noch nicht stark genug gewesen zu sein, wenn die zwei kleinen rubinroten Tropfen die Tage der Besserung so jäh unterbrechen konnten.
Was aber, fragte sich Norbert bei genauerem Überlegen, sind schon zwei kleine rote Tropfen? Vielleicht waren es zwei Tropfen konzentriertes Kaliumpermanganat, ein Mittel zur Desinfektion, das in Wasser gelöst auch einen starken Ton roter Farbe ergibt.
Norbert betrat den Speisesaal mit der konzentrierten Haltung, mit der ein Spieler das Kasino zu betreten pflegt. Im Saal waren die Plätze zwar festgelegt, aber es gehörte zu Norberts Energierolle, einen winzigen Augenblick in betont aufgerichteter Haltung zu verharren und seinen Blick weich über die Anwesenden schweifen zu lassen. Dann erst ließ er sein rechtes Bein in einen Schritt gleiten, etwa wie ein Tänzer einen Tanz beginnt. Dann erst strebte er seinem vorgesehenen Speiseplatz zu. Norbert sandte ein freundliches Lächeln an die anderen Gäste seines Tisches, dann nahm er Platz und erfasste mit fröhlich zwinkernden Augen all die nahrhaften Leckereien, die auf dem Tisch aufgebaut waren.
Auch an diesem Abend gab sich Norbert lustvoll und ausgiebig dem Essen hin, bis er sich eine Stunde später ermattet, mit
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