Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
behandelt. Krankheiten können durch solche Behandlung vielleicht geheilt werden. Obwohl Norbert da auch so seine Zweifel hatte. Aber die Flüche, die die Krankheiten verursachten, wurden so jedenfalls nicht beseitigt.
Norbert blickte gehetzt um sich.
Die Gedanken in ihm überschlugen sich. Was waren die Motive von Flüchen? Und was füllte sie mit so ungeheurer Energie? Er musste das in Ruhe durchdenken. In Ruhe. Er lachte schrill und hysterisch, und es schien, als würde der schweigende Wald die Laute seines Lachens restlos schlucken. Norbert blieb verwundert stehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die Geräusche seiner Füße im Schnee schon seit geraumer Zeit nicht mehr gehört hatte. War er jetzt auch noch taub geworden? Er stampfte mit Macht auf den Boden... und hörte nichts.
So kam es, dass er die fünf grauen Gestalten erst sah, als sie auf Schrittlänge an ihn herangekommen waren. Sie standen dicht nebeneinander quer über den Weg, angetan mit kargen Umhängen. Das vom Schnee widergespiegelte Licht ließ ihre Gesichter als helle verschwimmende Flecken mehr ahnen als erkennen. Sie hatten sich völlig bewegungslos dort aufgebaut und verstellten Norbert ohne jedes Wort, ohne jeden Laut den Weg. Schneidender Hustenreiz stieg in ihm hoch, explodierte in seinem Hals, er würgte, sah grelle Sterne, konnte wieder hören.
Danach schienen ihm einige Minuten zu fehlen. Denn als sein Bewusstsein zu ihm zurückkehrte, nahm er seinen rasselnden Atem wahr, seine eigenen stolpernden Schritte und ein erbärmlich schwankendes Sichtfeld. Die Töne waren also wiedergekommen. Norbert holte sich gewissermaßen selbst wieder ein, als er panikartig wie ein verletztes Wild durch dichtes Unterholz brach.
Eine ganz ferne Erinnerung drang zu ihm durch. Eine Erinnerung an Kindertage, als er Abenteuerbücher des Nachts unter der Bettdecke mit Hilfe seiner kleinen silbernen Taschenlampe las. Aus diesen Büchern drang zu ihm heute das Wissen, dass der Fliehende aufgrund seiner Eigengeräusche seine Verfolger nicht hören kann. Was gefährlich ist, denn er weiß so niemals, wo sie sich gerade befinden.
Norbert hielt an. Mit dem klebrigen Geschmack von Blut im Mund wankte er auf einen Baum zu, um sich abzustützen. Offenbar hatte er sich auf die Zunge gebissen. Oder er war in den zwei Minuten, die ihm fehlten, verletzt worden. Er wagte kaum, sich umzusehen. Aber dann hob er doch wie unter magischem Zwang die Augen. Die fünf Verfolger standen am gegenüberliegenden Rand der Lichtung und schienen zu warten. Worauf warteten sie?
Norbert rannte los und wäre um ein Haar vor eine Mauer gelaufen. Wie aus dem Nichts heraus tauchte sie plötzlich aus dem Boden auf. Etwa hüfthoch umzog sie ein weites Geviert. In seiner Mitte erhob sich eine kleine, zerfallen wirkende Kirche. Der Mond trat hinter Wolken hervor und überflutete die Kirch e mit seinem besonderen Licht. Norbert meinte sogar im Hintergrund halb abgerissene Häuser erkennen zu können, aber sicher war er sich nicht. Ein Blick zurück zeigte ihm, dass seine Verfolger noch nicht aus dem Wald getreten waren. Norbert stürzte auf die Kirche zu. In diesem Augenblick fing es an zu schneien, als hätte Frau Holle ihr ganzes Oberbett auf einmal ausgeschüttet. Norbert erreichte das Eingangsportal der Kirche, sah zurück und erkannte, wie sich seine Fußspuren mit Schnee füllten. Vielleicht verwischte der Neuschnee seine Spuren. Immerhin, ein kleiner Lichtblick.
Als er direkt vor der Kirche stand, wirkte sie auf ihn wesentlich größer, als von weitem gegen die hohen Tannen betrachtet. Norbert drückte sachte gegen das Eingangstor, und es öffnete sich knarrend. Durch die hohen Seitenfenster fielen weiß-silberne Lichtbalken ins Innere des Kirchenschiffes und überschütteten alles mit einem bläulichen Glanz. Die Kirche war fast bis zum letzten Platz gefüllt. Trotzdem war kein Laut zu hören, kein Hauch zu spüren.
Norbert begann am ganzen Leibe zu zittern. Das durfte einfach nicht wahr sein. Das war in seiner Grausamkeit so obszön, dass es das nicht geben durfte: Sie waren alle tot. Dahinter musste doch etwas irgendwie Größeres stecken, etwas Überdimensionales, so etwas wie das Gespenst der mittelalterlichen Pest. Etwas, das riesengroß bis an den Himmel reicht und mit seinen Knochenhänden, sich die Menschen wahllos greift und zerreißt. Aber es konnte auch etwas sein, was Menschen, böse Menschen, verursacht hatten, die kollektive Vernichtung einer ganzen Dorfbewohnerschaft,
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