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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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allen Anzeichen angenehmer Sättigung in seinen Stuhl zurücksinken ließ.
    Während dieses Zurücksinkens versuchte er, verborgen für seine Tischnachbarn, einen Blickkontakt mit der dunkelhaarigen schönen Herzkranken am Nachbartisch aufzunehmen. Norbert gedachte den angenehmen Abend mit einem noch angenehmeren Spaziergang zu zweit zu krönen. Wobei man sich nichts Ehrenrühriges denken sollte. Die gemeinsame Not unter der Oberfläche machte alle Kurgäste toleranter, als sie es in ihrem normalen Leben waren. Allein, an diesem Abend schien die dunkelhaarige Schöne mit etwas anderem befasst.
    Sie erwiderte Norberts Blick nicht.
    Wie bei jeder anderen Mahlzeit erschien zum Schluss ein kleines blaues Schüsselchen, das unter seinem Deckel offenbar noch eine besondere Leckerei dem naschhaften Auge verbarg. Ein Pilzgericht, vermutete Norbert diesmal, jedenfalls etwas mit Sauce, wie er auf den leeren blauen Tellern der Nachbarn erkennen konnte. Voller Erwartung fasste Norbert den blauen Knopf, hob den Deckel auf und erstarrte. In seinem Napf lag ein toter Vogel, eine Blaumeise, wie es Norbert durch den Kopf ging. Die Todesursache war nicht zu erkennen. Nur zwei winzige rote Blutstropfen rechts und links vom Schnabel wiesen darauf hin, dass diese Meise keines natürlichen Todes gestorben war. Norbert sprang auf, sein Stuhl kippte um, Gesichter sahen auf, verwundert, erschreckt. Seine Nachbarn entdeckten ebenfalls die tote Meise, teilten den anderen Tischen flüsternd den grausigen Fund mit. Schließlich ließen sie das Flüstern und Stimmengewirr brandete auf.
    Der Küchenchef erschien, sah in den Napf. Seine Miene gefror. Blitzschnell fasste er die Schüssel mit der Meise und hastete davon. Man hörte ihn in der Küche fürchterlich herumschreien. Dann kam er wieder, gemessen, ganz Würde und sprach den immer noch stehenden Norbert an: "Von uns in der Küche war das niemand. Wir richten keine toten Singvögel an."
    Und er ließ in den darauf folgenden längeren Ausführungen deutlich durchblicken, welche Meinung er über jene Völker dieser Erde hegte, die Singvögel fingen, brieten, garten oder, wie hier, roh anrichteten. Norbert hörte nichts von alledem. Sein Gehirn fühlte sich an wie in Watte gepackt.
    Norbert glitt fühllos aus dem Saal. Er spürte nicht die Blicke, die ihm folgten, vielmehr strebte er schnurstracks über den Flur und klopfte an die Tür des Kurarztes Prof. Dr. Zimmer. Ob er jetzt noch da war?
    Eine freundliche, sonore Stimme sagte: "Herein!“
    Norbert öffnete die helleichene Tür und stand Prof. Dr. Zimmer gegenüber, der ihn fast strahlend, jedenfalls voll eigener unzerstörbarer Gesundheit anlächelte und ihm entgegenkommend Platz anbot. "Was führt Sie zu so später Stunde zu mir?" , fragte der Professor und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.
    "Sie werden es mir vielleicht nicht glauben. Sie werden meinen, ich spinne, aber Sie können alle fragen. Es ist wirklich geschehen. Eine Blaumeise lag auf meinem Teller", stammelte Norbert. "Es ist heute geschehen. Und es ist wirklich geschehen, so wie alles andere, von dem ich Ihnen schon erzählt habe."
    "Eine Blaumeise?!", murmelte der Professor indigniert." Zum Abendessen? Wie unappetitlich!"
    "Es war grauenhaft", sagte Norbert. "Es war vor allem so grauenhaft, weil ich mit solchen Dingen nie rechne."
    Der Professor sah Norbert fest an: "Mit solchen Dingen ist ja wohl auch nicht zu rechnen. Wer mit so etwas rechnet, der ist wirklich krank. Sie dürfen sich da jetzt nicht so hineinziehen lassen. Es war sicher ein böser Scherz von irgendjemandem in diesem Haus, der böse Scherze liebt."
    "Nein, nein!" , sagte Norbert. "Das war bestimmt kein Scherz. Alles, was mir geschah, passt nach einem schrecklichen, ekelhaften Muster zusammen. Ich fühle das."
    Der Professor betrachtete Norbert forschend: "Ja, dann wollen wir mal sehen. Ekelhaft, sagen Sie? Was an dieser Blaumeise war für Sie ekelhaft?"
    "Dass sie tot war und auf meinem Teller lag", sagte Norbert.
    "Lassen Sie uns über das Wort 'tot' ein wenig nachdenken. Wann sind Sie z.B. zum ersten Mal mit etwas Totem konfrontiert worden? Gehen Sie mal ein Stück weit in Ihre eigene Vergangenheit zurück!" , forderte der Professor, und seine Stimme bekam bei dem letzten Satz diesen eigenartig hypnotischen Klang.
    Norbert begann nachzusinnen. Aber seine Erinnerung reichte diesbezüglich nur bis zu jenem Tag vor einem Jahr, als alles mit einem ganz neutralen Briefumschlag anfing, der harmlos unter

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