Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
seiner Geschäftspost lag. Ein Brief ohne Absender. Norbert arbeitete in der Teppichbranche, und ein Brief ohne Absender ist in diesem Produktionsbereich reichlich ungewöhnlich.
Norbert öffnete den Brief. Ein lila Papier in der Größe einer Visitenkarte lag vor ihm. Auf dem Blättchen stand gedruckt: "Ich liebe Sie!"
Norbert war kein Junggeselle. Im Gegenteil. Er war verheiratet und Vater von zwei Kindern. Hatte er da jemandem unbewusst schöne Augen gemacht, jemanden angelockt mit unüberlegten süßen Worten? Oder war das eine kleine Überraschung seiner Frau?
Norbert fühlte sich ratlos und wusste auch nicht, wie er reagieren sollte. In den nächsten Tagen spürte er deutlich, wie sich seine Wahrnehmung veränderte. Bei jeder weiblichen Person, die ihm begegnete, begann er sich zu fragen, ob sie die Absenderin sein konnte.
Vierzehn Tage später fand er den nächsten Brief ohne Absender. Auf einer roten Visitenkarte sta nd: "Ich liebe Sie wahnsinnig!"
Eine Steigerung, ohne Frage. Norbert hätte jetzt wirklich gerne gewusst, warum und von wem diese Briefe kamen. Es beunruhigte ihn doch zunehmend, dass da eine unbekannte Frau sich so sehr für ihn interessierte. Aber interessierte sie sich wirklich für ihn? Es stand diesem Jemand doch frei, offen und ehrlich auf ihn zuzugehen. Aber dieser Jemand fragte Norbert nicht. Er schmiss ihm seine Liebe einfach vor den Kopf, aber ohne Absender. Und so wirkte sie dann auch.
Norbert wurde krank. Eine Welle von Erkältungskrankheiten überzog ihn, wie das Wasser der See den Strand.
Norbert hatte sogar seine Frau gefragt, ob sie die Absenderin der seltsamen Briefe sei. Er hatte ihr die Briefe gezeigt. Sie reagierte teils belustigt, teils beunruhigt. Sie fürchtete nicht diese andere Frau, wohl aber die Wirkung, die der stete Druck auf ihn hatte. Sie roch an den Briefen: "Sie riechen nach nichts", sagte sie. "Das ist seltsam. Frauen riechen in der Regel immer nach irgendetwas Gutem und ihre Briefe auch."
Im Januar kam der dritte Brief, dunkelblau: "Ich muss Sie haben!"
Nun, das war kein romantisches Gesäusel, das war ein brutaler Besitzanspruch. Norbert wurde wütend, vor allem, weil er sich nicht mit der Absenderin auseinandersetzen konnte. Eine Verrückte, sagte er sich. Aber es beruhigte ihn keineswegs zu wissen, dass irgendwo in seiner Umgebung jemand lebte, der verrückt genug war, ihm solche Briefe zu schreiben.
Im Februar kam der vierte Brief, tiefgrün: "Ich hasse Sie, weil Sie meine Liebe nicht erwidern."
Das war nun einfach lächerlich. Aber Norbert spürte, wie sich seine Beziehung zu Frauen zu verändern begann. Jede konnte es sein. Außer seiner Frau. Oder...?
Im März trudelte der fünfte Brief ein: "Ich verfluche Sie!" , stand auf einem kaltgelben Kärtchen. " Alles, worauf Sie bauen, wird einstürzen, alle, auf die Sie vertrauen, werden Sie verraten."
Der bisher längste Brief. Eine sehr ausführliche Verfluchung.
Auch diesen Brief fand Norbert zunächst lächerlich. Aber dann begannen Dinge zu geschehen, die er nicht nur seinen überspannten Nerven zuschreiben konnte. Die Bremsen an seinem Auto versagten. Glücklicherweise blieb er in der Bahnschranke hängen. Sonst hätte ihn dieser langsam fahrende Güterzug zermalmt.
Seine Frau wurde krank. Sehr krank. Sie neigte keineswegs dazu krank zu werden. Zuerst dachte er, er hätte sie mit seinen dauernden Erkältungen angesteckt. Aber dann stellte sich ihre Erkrankung als ein besonders schwieriger Fall von Hepatitis heraus.
Und dann diese enervierenden Kleinigkeiten. Dass z.B. sein Pass plötzlich verschwunden war. Dass ihre beiden Katzen plötzlich tot im Wohnzimmer lagen, Tod durch Rattengift?
Im Oktober dann kam ein kleines Päckchen, das Norbert zunächst für eine Werbesendung hielt, bis ihm aus dem eingefetteten Packpapier ein schlanker Zeigefinger entgegenrollte. Der Fingernagel war mit schwarzem Nagellack lackiert.
Norbert brach zusammen. Der Druck war einfach zuviel für ihn. Er floh in dieses Kurheim im Hochsauerland. Nun war es November geworden, und der Fluch war ihm in den Winter hinein gefolgt. Nun begannen auch hier seltsame Dinge zu passieren.
Norbert antwortete dem Professor: "Ich weiß nicht, wann mir der Tod zum ersten Mal begegnete. Jedenfalls bekam ich schon bei dem zweiten Brief Angst. 'Ich liebe Sie wahnsinnig'. Und seit dem dritten Brief habe ich immer wieder leichte Anfälle von Todesangst. 'Ich muss Sie haben!' Ich mag nicht von irgendjemandem 'gehabt' werden", führte
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