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Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)

Titel: Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Schuck
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Wochen alt. Wilfried belastete das nicht. Hauptsache, er konnte sein Bewusstsein mit irgendwas beschäftigen. Nur ja nicht nachdenken. Z.B. über Angela, die jetzt irgendwo in diesem Millionenheer der Stadtmenschen ihrer Arbeit nachging.
    Warum musste Angela aber auch so verdammt stur sein?! Er würde es doch schaffen! Ein bisschen mehr Vertrauen von ihrer Seite. Wilfried war nun einmal zum Dichter geboren. Und er glaubte daran. So stark, wie man vielleicht nur mit neunzehn Jahren an etwas glauben kann. Angela verstand das nicht.
    Nur nicht nachdenken!
    Über seine Eltern, dieses grauhaarige Zwillingspaar, das offenbar schon vorgeburtlich dazu bestimmt war, sich zu finden, immer das gleiche zu denken und nach den zwei Grundsätzen zu leben: Nur kein Risiko und: Wir machen alles zusammen. Egal, was es war, nur ordentlich musste es sein. Nur nicht nachdenken, sagte sich Wilfried.
    Über den Ofen , der qualmte und die ganze Wohnung mit ätzendem Gestank erfüllte.
    Überhaupt über diese fiese, miese Bude, in der er jetzt saß. Dieses Haus wurde bald abgerissen. Deshalb waren in diesem Riesenklotz nur noch zwei Wohnungen belegt. In der einen wohnte dieser schmutzige Alkoholiker, ein Totalverlierer, der mit niemandem mehr sprach. In der anderen wohnte Wilfried. Nur nicht nachdenken!
    Über diesen zerschlagenen Ausguss. Die Tür, die neben der ewig stinkenden Toilette lehnte, weil die Türangeln abgebrochen waren. Wilfried seufzte, während seine Blicke über die Zeilen huschten, wie fliehende Hasen auf dem Stoppelfeld.
    Dann stieß er auf die Anzeige: "Haben Sie den Eindruck, dass in Ihrem Leben die Weichen falsch gestellt sind? Verlieren Sie nicht die Hoffnung! Rufen Sie uns ruhig an. Wir sind immer für Sie da. Mit uns lernen Sie die Weichen richtig zu stellen: 0201/ 7o64608. Verein für ethische Erneuerung und Lebensglück e.V."
    Wilfrieds Augen huschten weiter. Die Cornflakes krachten in seinem Kopf. Diese Portion war zu alt, um noch Milch aufzunehmen. Aber der Kaffee tat ihm gut. Und wie die Weichen in seinem Leben falsch gestellt waren! Aber das hatten sie getan. Dieses graue Ameisenheer. Alle, die tun, was man tut, die sagen, was man sagt. Als wenn sie sich alle gegen ihn verschworen hätten, um die frischen Blüten seines Dichterlebens zu zerstören. Sie wollten ihn fertigmachen. Alle. Das System, die Grauen, seine Eltern, sogar Angela.
    Kalte Wut stieg übel in ihm auf. Eigentlich konnte es doch nicht schaden, da anzurufen? Er konnte doch jederzeit wieder auflegen, wenn sie ihm irgendwie komisch kamen. Wilfried riss die Anzeige aus der Zeitung. Mit ganz ruhigen, gelassenen Bewegungen, die er sich in seiner Einsamkeit angewöhnt hatte, räumte er den Tisch ab, spülte das Geschirr und stellte es auf das Abtropfbrett. Die Uhr über dem Ausguss zeigte 9.00. Der Tag hatte kaum richtig begonnen und Wilfried war schon fertig. Er war frei. Keine fremdbestimmte Arbeit, die ihm ihren Rhythmus aufpresste. Wilfried musste sich selbst einen Rhythmus geben. Oder durfte. Es gelang ihm auch nicht schlecht. Wenn nur nicht diese vielen grauen Ameisen gewesen wären, die ihm dauernd ein schlechtes Gewissen zu machen versuchten. Mit einem letzten Blick auf seine wenige Habe verließ Wilfried die Wohnung und stieg die knarrenden Treppen hinunter. Der Hausflur sah aus, wie er vielleicht 1944 schon einmal nach einem alliierten Bombenangriff ausgesehen hatte.
    Sind die Weichen Ihres Lebens richtig gestellt?
    Wilfried riss voller Wut die Haustür auf und hielt verdutzt die Klinke in der Hand. Hier hielt nichts mehr! Er warf die Klinke auf zwei streunende Katzen, die neben einer überlaufenden Mülltonne Konservendosen ausschleckten. Als die Klinke auf das Pflaster klirrte, stoben die Katzen in Panik davon, die Ohren eng an den Kopf gelegt und irgendwie nach hinten gedreht, um die Schritte etwaiger Verfolger orten zu können.
    Wilfried trat durch die enge Toreinfahrt. Leichter Nieselregen trug auch nicht gerade zu seiner Erheiterung bei. Mit verkrampften Schritten machte er sich in Richtung der Bahnhofsmission auf. Verlieren Sie nicht die Hoffnung! Dreihundertvierundsechzig Euro bekam Wilfried durch Hartz IV. Zweihundert kostete die Wohnung. Das bekam er über das Wohngeld zurück. Wie von einem Magneten angezogen, schienen aus allen Schlupflöchern der Stadt gestrandete Menschen zu strömen und ganz bestimmte Punkte der Riesenstadt anzulaufen: das Arbeitsamt, das Sozialamt und die Bahnhofsmission.
    Wilfried ging zur Bahnhofsmission,

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