Lacunars Fluch, Teil 1: Der Auftrag (German Edition)
Torwärterhaus ausharren, bis die Sache geklärt war. Griff die Stadtwache jemanden auf den Straßen Margans auf, der nichts dergleichen vorzuweisen hatte, wurde er in den Jammerturm verbracht. Klärte sich der Grund seines Aufenthaltes nach drei Tagen nicht, wurde er zur Abschreckung auf den Zinnen der Stadt gepfählt.
Die Ursache für diese Abschottung von der Außenwelt lag in den grausamen Überfällen von Völkern, die jenseits der Reichsgrenzen wohnten. Erst, nachdem die Elite von Jawendor sich mit all ihrem Reichtum nach Margan zurückgezogen hatte, waren diese abgeflaut, weil sich die Raubzüge weniger lohnten.
Aus diesem Grund war Jaryn heilfroh, überhaupt in die Stadt eingelassen zu werden. Rüde hatte der Torwächter ihn abgewiesen, und erst, als Jaryn ihm die Schriftrolle mit dem Bildnis Alathaias unter die Nase gehalten hatte, war der Wächter totenblass zurückgewichen, denn es war ein gebanntes Bild. Achay und Zarad waren die Hauptgötter Margans, Alathaia war so gut wie tot. Nur noch alte Weiblein besuchten ihren verfallenen Tempel am Rande der Stadt, doch ihr Bildnis war verboten.
»Ich erlaube es dir, mich zu berühren. Ich erlaube es dir. Ich erlaube es dir.« Unermüdlich murmelte Jaryn diese Worte vor sich hin, um in Margan kein Massaker veranstalten zu müssen. In seiner Verkleidung erkannte niemand in ihm den Sonnenpriester, dennoch war sein Leib heilig und das Berühren todeswürdig. Wenn er darüber nachdachte, lachte er bitter auf. Kein Mensch in Margan ahnte, auf welche Weise er schon berührt worden war. Auf dem Heimweg hatte er überlegt, wie er zukünftig damit umgehen sollte. Verschweigen oder bekennen? Als er die goldene Kuppel des Sonnentempels erblickte, seine strahlend weißen Mauern, die Reinheit verkörperten, war seine Entscheidung gefallen. Er würde die Sache verschweigen. Mochten die Götter ihn dafür bestrafen; er war auf Bußen der Himmlischen vorbereitet. Aber mit Worten zu wiederholen, was ihm widerfahren war, das ginge über seine Kräfte. Diese Schwäche war ein Makel, er wusste es, aber er würde hart an sich arbeiten – und dann war da noch dieser dubiose Auftrag von Anamarna. Konnte er seine Energien in unerquicklichen Selbstanklagen vergeuden, wenn ihm so wichtige Aufgaben übertragen worden waren? Freilich, dass er überfallen und ihm das Feuerauge geraubt worden war, das konnte er nicht verheimlichen.
Sagischvar persönlich empfing ihn in dem runden Saal unter der Kuppel. Nur selten widerfuhr einem der Priester diese Ehre. Hieraus glaubte Jaryn, die hohe Bedeutung ablesen zu können, die man der Sache beimaß. Sagischvar war ein Mann mittlerer Größe, hager, mit schütterem Haar, schmalen Lippen und stechenden Augen. Es hieß, selbst König Doron fürchte ihn, mehr noch als seinen Rivalen Suthranna, den Oberpriester des Mondtempels, doch das mochte an den Legenden liegen, die Sagischvar über sich selbst verbreiten ließ. Er sei bereits weit über hundert Jahre alt, könne fliegen und in die Zukunft sehen.
Was den großen Sagischvar betraf, glaubte Jaryn jedes Wort. Demütig beugte er das Knie. Dass er sein Haupt nicht entblößte, war kein Zeichen von Respektlosigkeit, es war geboten. Auch Sagischvar war nur ein Mensch mit menschlichen Trieben. Er verstand das meisterlich zu verbergen, aber zu nahe treten durfte man ihm nicht. Während er kniete, ließ Jaryn seine Blicke unter gesenkten Lidern heimlich schweifen. Wer hier wohnte, war tatsächlich den Göttern nahe. Das Licht, das durch das bunt gefärbte Glas in der Kuppel fiel, tauchte den riesigen Raum in unwirklich anmutende Licht- und Schattenspiele.
Sagischvar hob in stiller Erwartung die Brauen. Jaryn fühlte sich unbehaglich unter den Rabenaugen, mit denen ihn Sagischvar musterte. Sein offensichtliches Befremden war dem Köhlermantel geschuldet, aber Jaryn hatte keine Zeit gehabt, sich passend zu kleiden, weil er sofort am Eingang abgefangen worden war. »Verzeiht den unwürdigen Aufzug, Erhabener. Ich wurde in den Rabenhügeln überfallen, als ich mich auf dem Rückweg befand.« Mit klarer Stimme – zittern durfte sie bei seinen Lügen nicht – erstattete er Sagischvar Bericht. Er erzählte vom Raub der Kette und seiner Kleider, woraufhin er – den Göttern sei Dank! – in einer Köhlerhütte diesen Mantel gefunden habe; alles peinlich genug, aber immerhin glaubwürdig und nicht anstößig. Ein Sakrileg blieb es dennoch. Sagischvar nickte kurz. »Wir werden Schritte gegen diese
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