Lady Chesterfields Versuchung
ihn mehr als alles andere auf der Welt. Ihre Füße und jeder Muskel in ihrem Körper schmerzten von dem Gewaltmarsch, den sie hinter sich hatte, doch ihr Herz schmerzte viel mehr bei dem Gedanken, ihn zu verlieren.
Ich will nicht ohne ihn leben.
Ihr ganzes Leben lang war ihr vorgeschrieben worden, was richtig und sittsam war. Man hatte ihr strenge Regeln auferlegt, um sie zu einer perfekten Dame zu formen. Aber es reichte. Lang genug hatte sie anderen gestattet, Entscheidungen für sie zu fällen.
Stets hatte sie andere dafür verantwortlich gemacht, dass sie über so wenig Freiraum verfügte. Dabei hätte ein Wort genügt, um das zu ändern: nein. Sicherlich musste eine Prinzessin hohen Ansprüchen gerecht werden, doch das bedeutete nicht, dass sie gezwungen war, sich den Launen anderer Menschen zu unterwerfen. Eine wahre Prinzessin gab Anordnungen und entschied selbst, welche Regeln zu ihrem Schutz da waren und welche ihre Freiheiten einschränkten.
Da sie ihren Füßen eine Pause gönnen musste, setzte Hannah sich ins hohe Gras. Vielleicht half es, wenn sie endlich aufhörte, eine Dame zu sein und anfing, sich wie eine Prinzessin zu benehmen.
Als sie wieder aufstand, brannten ihr Tränen in den Augen. Sie marschierte weiter, doch plötzlich hörte sie Hufgetrappel, das sich rasch näherte. Hastig suchte sie im Straßengraben Deckung und versuchte, sich zu beruhigen. Vor Angst schlug ihr das Herz wie wild gegen die Rippen, und sie hatte das Gefühl, als würde es ihr jeden Moment in ihrer Brust zerspringen.
Als der Reiter näher kam, erhaschte sie einen Blick auf sein Gesicht und erstarrte. Er lenkte sein Pferd von der Straße herunter und ritt genau auf sie zu.
Hannah hielt den Atem an und erstarrte, als der Mann zu ihrem Versteck blickte. In seiner Hand glänzte matt eine Schusswaffe.
Seine Stimme war kühl und resolut. „Haben Sie sich verirrt, Lady Hannah?“
Nach stundenlangem Suchen waren sie etwa zwanzig Meilen vom Schloss entfernt auf eine verlassene Kutsche und einen Stapel Unterröcke gestoßen. Keine einzige Spur verriet, was aus Lady Hannah geworden war.
Fluchend wendete Michael sein Pferd, um zügig wieder in die Richtung zurückzureiten, aus der sie gekommen waren. Irgendetwas hatten sie übersehen – aber was?
Der Hauptmann der Leibgarde lenkte sein Pferd an Michaels Seite. „Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Hoheit, würde ich sagen, wir sollten unsere Suche in die entgegengesetzte Richtung ausdehnen.“
„Lady Hannah kann nicht weit von hier sein. Ich werde auf keinen Fall ohne sie heimkehren.“ Michael berührte die Pistole, die in seinem Hosenbund steckte. Der Entführer würde es bitter bereuen, wenn er ihn als Erster ausfindig machen sollte.
Es begann zu dämmern, und am Horizont rötete sich der Himmel.
Michael trieb sein Pferd zur Eile an und suchte aufmerksam die Wegränder ab. Immer wieder besah er sich die Spuren der Kutschenräder, in der Hoffnung, irgendetwas Ungewöhnliches, irgendeinen Hinweis zu finden.
Plötzlich schienen seine Gebete erhört worden zu sein, und er zügelte das Pferd, als er an einem Weißdornstrauch einen violetten Stofffetzen entdeckte. Es war nur ein schmaler Streifen, aber ohne jeden Zweifel stammte er von Hannahs Abendkleid.
„Hier entlang!“, befahl er den Männern.
Während er der Fährte folgte, hielt er das Stück Stoff fest in seiner Hand. Ich werde dich finden, versprach er Hannah stumm. Und Gott stehe dem Schurken bei, der dich entführt hat.
Er gab seinem Pferd die Sporen und hielt den Blick auf das geknickte Gras gerichtet. Als er nach einiger Zeit hochsah, erblickte er in einiger Entfernung ein Pferd, auf dem hinter dem Reiter eine Frau saß. Sie trug ein violettes Kleid – zweifellos handelte es sich um Hannah.
Michael stieß seinem Pferd die Absätze in die Flanken und galoppierte los, die Soldaten der Leibgarde dicht hinter ihm. Er war sicher, den Reiter einholen zu können.
Doch plötzlich meldete sich sein untrüglicher sechster Sinn, und er zügelte sein Pferd. Was sich hier abspielte, war verdächtig. Nicht auszuschließen, dass es sich um eine Falle handelte.
Die Wachen holten ihn ein und ritten an seiner Seite.
Die erste Kugel traf einen der Männer, die ganz außen ritten, und riss ihn von seinem Pferd. Als Michael über die Schulter sah, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf einen Gewehrlauf. Ein Trupp von sechs Männern war dabei, sie von beiden Seiten einzukreisen, und er und die Soldaten der
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