Lady Chesterfields Versuchung
Kutsche zu stehlen und dich zu entführen.“
„Dieser niederträchtige Lügner!“ Hannah schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Beleidigungen würden ihr auch nicht weiterhelfen.
Entsetzt begegnete sie dem wütenden Blick ihres Vaters und hoffte inständig, dass er Belgraves Lügen keinen Glauben schenkte. Aber bestimmt würde er doch ihr, seiner folgsamen Tochter, vertrauen? Oder konnte ein einziger Fehltritt alles andere vergessen machen?
Unwillkürlich musste sie an den Kuss des Lieutenants denken. Zweifellos hätte sie sich dagegen wehren müssen, statt ihn bereitwillig zu erwidern. Aber sie war überrumpelt gewesen und neugierig angesichts dieses Aufflackerns sinnlichen Verlangens. Sie hatte unbedingt wissen wollen, wie ein richtiger Kuss sich anfühlte – aber um welchen Preis!
„Harrison, fahren Sie meine Tochter nach Hause“, befahl der Marquess seinem Diener. „Ich werde Lieutenant Thorpe in dieser Kutsche begleiten.“
Als der Lieutenant kurz nickte, fragte Hannah sich, was in ihm vorgehen mochte. Doch weder seine haselnussbraunen Augen noch seine Miene gaben irgendetwas von seinen Gedanken oder Gefühlen preis.
Als der Lakai ihr in die Kutsche ihres Vaters half, hoffte sie inständig, dass die Angelegenheit aus der Welt geschafft werden konnte und alle Stillschweigen bewahrten. Sie verdiente es nicht, bestraft zu werden. Ganz im Gegensatz zu Lord Belgrave, den sie am liebsten geteert und gefedert hätte.
Harrison schloss den Schlag hinter ihr, und sie knetete angespannt ihre Finger. Glücklicherweise besaß der Lieutenant keinen Titel. Wäre er ein Earl oder Viscount gewesen, hätte ihr Vater auf einer umgehenden Eheschließung bestanden.
Da er jedoch nur ein gewöhnlicher Offizier der britischen Armee war, würde das nicht geschehen. Eigentlich hätte der Gedanke sie erleichtern sollen, doch er ließ sie nur umso angespannter werden. Ihr Vater war so erzürnt, dass er womöglich etwas Unüberlegtes tat.
Sie wusste nur nicht, was.
„Nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich Sie nur aus dem einzigen Grund nicht auf der Stelle umbringe, weil ich keine Blutflecken auf meinem Teppich haben möchte.“ Der Marquess of Rothburne wies auf den Lehnsessel vor seinem Schreibtisch. „Setzen Sie sich.“
„Ich bin nicht Ihr Hund.“ Michael wusste, dass er Öl ins Feuer goss. Doch er weigerte sich, sich so zu benehmen, als habe er Lady Hannah verführt.
Geküsst, ja. Aber das war schließlich kein Verbrechen.
Also stützte er sich mit den Unterarmen auf der Rückenlehne des Stuhls ab und erwiderte den Blick des Marquess unerschrocken. „Ich bedaure es nicht, Lady Hannah aus Belgraves Fängen gerettet zu haben. Sie wissen so gut wie ich, dass der Mann sie nicht verdient.“
„Sie aber auch nicht.“
„Das stimmt.“ Es gab keinen Grund, Lord Rothburne übel zu nehmen, dass er die Dinge beim Namen nannte. Michaels Mittel boten ihm ein angenehmes Auskommen, aber ein Militärgehalt genügte nicht, um der Tochter eines Marquess ein angemessenes Leben zu ermöglichen. Ohnehin wollte er keine Frau und schon gar keine Familie, die von ihm abhängig war.
„Sie haben ihren Ruf ruiniert.“
„Nein.“ Michael trat an den Schreibtisch und stützte seine Hände auf der Tischplatte ab. „Ich nicht. Belgrave. Es ist allein seine Schuld, dass Ihre Tochter das Haus verlassen hat.“
„Sie hätten sie auf direktem Wege zurückbringen müssen!“, stieß der Marquess wütend hervor.
Das wusste er. Aber er hatte ihre Qualen nicht verschlimmern wollen. Und er war davon ausgegangen, dass die Unterbrechung nur kurz dauern würde – und nicht Stunden. Vielleicht hätte er sie ungeachtet ihrer Beschwerden nach Hause fahren sollen, doch es war müßig, sich über Dinge Gedanken zu machen, die er nicht ändern konnte.
„Ihre Tochter leidet häufig unter heftigem Kopfschmerz, habe ich recht?“, fragte er. „Sie erwähnte, dass sie dann für gewöhnlich Laudanum nimmt.“
„Das spielt keine Rolle.“
„Tatsächlich nicht? Ich nehme an, Sie wissen, welche Qualen sie aussteht, wenn sie von einem Anfall übermannt wird? Dass der geringste Lichtstrahl ihre Pein noch verschlimmert? Eine Kugel in der Schulter verursacht weniger Schmerzen, da bin ich sicher.“
„Selbst wenn es stimmt, was Sie sagen, ändert das nichts an der Tatsache, dass Sie stundenlang mit ihr allein waren.“ Rothburne griff nach einem Brieföffner und strich mit dem Finger über die Schneide. „Sie ist meine einzige Tochter. Mein
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