Lady Chesterfields Versuchung
Schmerzen verborgen.
Belgrave hatte sie entführt, doch angesichts ihrer immer schlimmer werdenden Beschwerden waren seine Nerven irgendwann zum Zerreißen gespannt gewesen. Er hatte verlangt, dass sie aufhörte zu weinen, doch es war ihr nicht möglich gewesen.
Dann hatte der Lieutenant sie gerettet, das Kutscheninnere verdunkelt und sie im Arm gehalten – schweigend und unendlich tröstlich.
Hannah zog den Schal fester um die Schultern. Sie wusste nicht, was sie von Thorpe halten sollte. Im einen Augenblick rettete er ihre Ehre, im anderen stahl er ihr einen Kuss.
Sie beschirmte die Augen mit der Hand gegen die helle Morgensonne und ließ den Blick in Richtung der Stallgebäude schweifen. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie Thorpe, der auf dem Stallhof wartete, während sein Pferd gesattelt wurde. Wie von selbst setzten sich Hannahs Füße in Bewegung. Dabei hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sie sagen sollte, wenn sie vor ihm stand. Sie wusste ja noch nicht einmal, weshalb sie eigentlich mit ihm sprechen wollte.
In seinen Augen las sie Erschöpfung, und ein Bartschatten zeigte sich auf seinen Wangen. Die weiße Krawatte hing ihm lose um den Hals, und seinen Hut hielt er in den Händen.
Hannah neigte den Kopf zum Gruß, und der Stallbursche zog sich taktvoll zurück, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. Trotzdem sprach sie leise, damit er sie nicht belauschte. „Ich bin froh, dass mein Vater Sie am Leben gelassen hat.“
Schulterzuckend streifte Michael seine Reithandschuhe über. „Mich bringt man nicht so leicht um.“
Fasziniert starrte Hannah auf seine schlanken Finger und musste daran denken, wie er ihren Nacken gestreichelt hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass sie das prickelnde Gefühl der Erregung gespürt hatte.
Sie schloss die Augen, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können und sich auf das zu konzentrieren, was sie wirklich sagen wollte. „Ich möchte Ihnen danken, dass Sie mich gerettet haben. Es bedeutet mir unendlich viel – trotz aller unangenehmen Konsequenzen.“
Der Lieutenant nickte knapp, als sei ihm ihre Dankbarkeit peinlich. „Lord Rothburne sagt, dass Sie Belgrave heiraten werden.“
„Mein Vater wäre bereit, mich dem nächstbesten Titelträger, der Rothburne House betritt, zur Frau zu geben“, erwiderte Hannah bitter. „Aber das lasse ich nicht mit mir machen. Es sei denn, er würde mich zum Altar schleifen.“
„Ich hatte Sie für eine gehorsame Tochter gehalten.“
„Nicht in diesem Punkt.“ Sie konnte kaum glauben, dass sie das sagte. Es klang ganz und gar nicht nach ihr. Aber sie hatte das Gefühl, dass ihr bisheriges Leben in der vergangenen Nacht in tausend Scherben zersprungen war.
Gehorsam hatte ihr nichts eingebracht, und sie verspürte das Bedürfnis, ihre Verärgerung darüber mit jemandem zu teilen, der wusste, wovon sie sprach. „Was ist bloß geschehen?“, fragte sie leise. „Was habe ich falsch gemacht?“
„Nichts.“ Der Lieutenant streckte die Hand nach ihr aus, zögerte und zog sie wieder zurück. „Ihr einziger Fehler ist, dass Sie die Tochter eines Marquess sind.“
„Ich wünschte, ich wäre es nicht.“ Hannah senkte den Kopf. „Ich wünschte, ich wäre eine ganz gewöhnliche Frau. Dann hätte ich mehr Freiheit.“
Keine Listen, keine Regeln, die es zu befolgen galt. Sie könnte ihre eigenen Entscheidungen treffen und selbst über ihr Leben bestimmen.
„Das würde Ihnen ganz bestimmt nicht gefallen.“ Michael Thorpe deutete auf das Haus ihrer Eltern. „Sie sind für diese Welt hier geboren.“
„Sie ist ein Gefängnis.“
„Ein goldenes.“
„Nichtsdestotrotz ein Gefängnis.“ Sie sah ihm in die Augen. „Und nun zwingt man mich, Lord Belgrave zu heiraten. Es sei denn, ich finde einen Ausweg.“
Er antwortete nicht darauf, aber sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Das werden Sie.“
„Und was ist mit Ihnen?“ Ihr wurde bewusst, dass sie ihn gar nicht gefragt hatte, wie es ihm ergangen war. Der Marquess hatte es ihm sicherlich nicht leicht gemacht, so außer sich, wie er gewesen war. „Was ist zwischen Ihnen und meinem Vater vorgefallen?“
Der Lieutenant zögerte einen Moment. „Mein Kommandant wird dafür sorgen, dass ich auf der Krim bleibe.“
Eine schreckliche Ahnung beschlich sie. „Und was genau hat das zu bedeuten?“
„Ich werde in die Schlacht ziehen. Sehr wahrscheinlich an vorderster Front.“ Er zuckte mit den Schultern, als hätte er ohnehin nichts anderes
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