Lady Chesterfields Versuchung
erwartet. Doch sie wusste, was er nicht aussprach. An vorderster Front kämpften für gewöhnlich zum Tode verurteilte Männer. Das war ganz gewiss kein Platz für einen Offizier.
Das ist deine Schuld, dachte sie entsetzt. Wäre sie nicht gewesen, dann könnte der Lieutenant sein früheres Leben wieder aufnehmen.
„Sie sind gerade erst von Ihrer Verwundung genesen“, sagte sie langsam.
Er nickte. „Aber ich würde sowieso an die Front zurückkehren. Ich bin wieder völlig gesund.“ So, wie er es sagte, klang es, als beträfe es ihn gar nicht.
Ihr wurde bang ums Herz. „Es ist nicht fair, dass man Sie abermals in den Krieg schickt.“
„Es gibt nichts, was mich hier hält, meine Liebe. Ich habe immer damit gerechnet, wieder auf das Schlachtfeld entsandt zu werden. Es spielt also keine Rolle.“ Er wollte zu seinem Pferd gehen, aber Hannah hielt ihn auf.
Ihretwegen würde er alles verlieren – weil er sie gerettet und sich um sie gekümmert hatte.
„Es spielt sehr wohl eine Rolle.“ Hannah berührte seinen Ärmel und fragte sich verzweifelt, wie sie die Bestrafung, die ihr Vater für Lieutenant Thorpe erwirkt hatte, mildern konnte.
„Hören Sie auf, mich so anzusehen“, bat er leise und blickte ihr unverwandt in die Augen.
„Was meinen Sie damit?“
„Als ob Sie mich retten wollten.“
„Das will ich nicht.“ Sie musterte sein Gesicht. Er war durch und durch Soldat, darauf trainiert, gegen seine Feinde zu kämpfen. Und obwohl er im Moment müde aussah, wirkte er nicht minder gefährlich.
„Vertrauen Sie mir, meine Liebe. Ich bin es nicht wert, gerettet zu werden.“ Er nahm ihre Hand in seine, und trotz der Handschuhe spürte sie die Wärme seiner Haut. „Und Sie tun gut daran, sich von mir fernzuhalten.“
Seine eindringlichen Worte beschworen die Erinnerung an den gestohlenen Kuss herauf, und ein Schauer durchlief sie. Sie sahen einander in die Augen, und Hannah verharrte bewegungslos.
Es verstieß gegen sämtliche Gebote der Etikette, dass sie einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet war, gestattete, ihre Hand zu halten, und erst recht im Freien, wo jeder sie sehen konnte. Thorpe stand so nahe bei ihr, dass sie seinen warmen Atem auf ihren Wangen spürte.
Ein verbotenes Verlangen regte sich in ihr, und sie begann zu begreifen, dass Michael Thorpe kein gewöhnlicher Mann war. Er übte eine faszinierende Wirkung auf sie aus, führte sie in Versuchung …
Aber er hatte recht. Die Tochter eines Marquess konnte niemals mit einem Soldaten zusammen sein.
Ja, es war besser, wenn sie sich von ihm fernhielt, denn er war ganz eindeutig der falsche Umgang für sie. Bedauernd entzog sie ihm ihre Hand.
Und doch war er der Einzige, dem ihre Abwesenheit auf dem Ball aufgefallen war. Er hatte sich nicht damit aufgehalten, ihren Vater oder ihre Brüder nach ihr zu fragen, sondern sich unverzüglich auf die Suche nach ihr begeben wie ein Ritter nach der Maid in Bedrängnis.
Sein schlecht sitzender Frackrock hatte einen Riss am Ärmel. Derart heruntergekommen passte er nicht in die glänzende Welt, in der Hannah lebte. Doch dieser unangepasste, eigensinnige Mann hatte sich nicht gescheut, für sie zu kämpfen.
Würde er es wieder tun, wenn sie ihn darum bat?
„Lieutenant Thorpe, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?“
„Welchen?“, erkundigte er sich misstrauisch.
Es war ihr unangenehm, ihm die Frage zu stellen, und sie musste erst ihren ganzen Mut zusammennehmen. „Falls man mich zwingt, Lord Belgrave zu heiraten, würden Sie … einschreiten, bevor es zur Eheschließung kommt?“
Er lächelte träge. „Sie bitten mich, Sie von Ihrer eigenen Hochzeit zu entführen?“
„Wenn ich keine andere Wahl habe – ja.“ Sie straffte die Schultern, als wäre nichts Ungewöhnliches an ihrer Bitte. „Natürlich werde ich alles tun, um zu verhindern, dass es so weit kommt. Sie wären mein letzter Ausweg.“
Rau auflachend trat er zu seinem Pferd und griff nach den Zügeln. Dann legte er den Kopf schräg und musterte sie aufmerksam. „Sie meinen es ernst.“
„Ich könnte es ernster nicht meinen.“ Die Abmachung mit ihm würde ihr helfen, die schlimmste Tragödie ihres Lebens zu verhindern. Selbst wenn sie dadurch einen wesentlich größeren Skandal heraufbeschwor – sie würde alles tun, um Belgrave nicht heiraten zu müssen.
„Ich muss mich zu den Waffen melden“, gab der Lieutenant zu bedenken. „Es kann sein, dass ich schon in der kommenden Woche abberufen werde.“
Sie nickte
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