Lady Chesterfields Versuchung
herunterhelfen.“ Er hatte sie beinahe erreicht.
„Ich kenne keinen Michael. Bleiben Sie fort von mir, ich warte auf meinen Henry.“ Sie verfiel in einen eigentümlichen Singsang. „Verrückt. Sie ist verrückt“, intonierte sie mit dünner, hoher Stimme, „weil ihr Junge fort ist … fort ist.“ Und tränenerstickt sang sie weiter: „Meine Schuld … meine Schuld, dass es passiert ist. Ich wollte nicht, dass er stirbt, ganz bestimmt nicht.“
„Ganz ruhig.“ Michael war so dicht an sie herangekommen, dass er ihre Taille umfassen konnte, doch sie ließ das Tau los und schlug seine Hände beiseite.
„Sie sind nicht mein Henry. Ich kenne Sie nicht. Gehen Sie fort!“ Eine Sturmböe erfasste die Webleine so heftig, dass Mrs Turner den Halt verlor. Sie schrie laut auf und wehrte sich, doch Michael bekam sie zu fassen und hielt sie unbeirrt fest.
Als er nach unten sah, bemerkte er, dass Lady Hannah ebenfalls zu ihnen hochkletterte. „Lassen Sie mich es versuchen, Michael. Ich bringe sie dazu, herunterzukommen.“
„Nein“, rief er ihr zu. „Es ist viel zu gefährlich. Kehren Sie sofort um!“
Doch sie ignorierte seine Aufforderung und kletterte weiter. „Sie machen ihr Angst“, rief sie zu ihm hinauf. „Ich bin eine Frau. Von mir wird sie sich helfen lassen.“
Er wollte widersprechen, doch da berührte sie ihn bereits am Ellenbogen. „Begeben Sie sich nach unten und fangen Sie uns auf, falls eine von uns stürzt.“ Mrs Turner hatte wieder begonnen zu singen. Diesmal klang ihre Stimme brüchig und heiser. „Michael, bitte“, flehte Hannah. „Wenn Sie sie weiter bedrängen, wird sie sich zur Wehr setzen und Sie beide verletzen.“
Natürlich hatte sie recht, dennoch kam Michael ihrer Aufforderung nur widerwillig nach.
Unterdessen sprach Hannah beruhigend auf Mrs Turner ein. „Ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Er lässt Sie jetzt in Ruhe und tut Ihnen nichts.“
„Sie wollten ihn mir wegnehmen. Meinen Jungen.“ Die alte Frau weinte.
Hannah redete weiter beruhigend auf sie ein, jedoch so leise, dass Michael nicht verstehen konnte, was sie sagte. Angespannt hielt er die Webleine umfasst und ließ die beiden Frauen nicht aus den Augen. Endlose Minuten vergingen, ohne dass etwas geschah.
Schließlich machte Mrs Turner sich an den Abstieg, Hannah an ihrer Seite. Wachsam beobachtete Michael sie, um notfalls einzugreifen, und als die beiden Frauen endlich wieder auf dem Deck standen, war seine Erleichterung grenzenlos. Hannah hielt Mrs Turner an der Hand und sprach immer noch leise auf sie ein.
Es war unerhört, was sie gerade getan hatte. Eine Dame kletterte nicht zwanzig Fuß in die Höhe, um jemanden zu retten. Es war skandalös und gefährlich, und am liebsten hätte er sie geschüttelt. Gleichzeitig wollte er nichts mehr, als sie in seine Arme ziehen, von Herzen erleichtert, dass ihr nichts zugestoßen war.
Hannah war so durchgefroren, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste, damit sie nicht klapperten. Sie war dankbar, dass Michael sie und Mrs Turner zu ihrer Kabine brachte, und nahm die Hand der alten Frau, die sich anfühlte wie aus Eis.
Als sie in ihre Kabine trat, war sie überrascht, Estelle dort anzutreffen. Die Zofe musterte sie entsetzt, als sie ihr derangiertes Äußeres bemerkte. „Lady Hannah? Was um Himmels willen ist denn mit Ihnen passiert?“
Hannah hatte nicht die geringste Lust, Estelle eine Erklärung zu geben, allein schon deshalb nicht, damit ihre Mutter nichts von dem Vorfall erfuhr. Sie ignorierte die Frage. „Ich hatte Ihnen befohlen, auf Mrs Turner achtzugeben, aber es scheint, als wären Sie Ihrer Pflicht nicht nachgekommen.“ Da sie auch keinen Wert auf Estelles gestammelte Entschuldigungen legte, schnitt sie ihr das Wort ab. „Genug. Gehen Sie und helfen Sie Mrs Turner ins Bett.“
Der Blick der Zofe heftete sich missbilligend auf Michael, der ihn unbeeindruckt erwiderte. Schließlich sah Estelle beiseite und kümmerte sich, wie Hannah ihr befohlen hatte, um Abigail Turner.
Als die beiden Frauen in der Dienstbotenkoje verschwunden waren, umfasste Michael sacht Hannahs Handgelenk und führte sie hinaus in den schwach beleuchteten Flur an eine Stelle, von der er annahm, dass sie dort vor neugierigen Blicken geschützt waren.
„Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht, sich in solche Gefahr zu bringen?“, fragte er leise.
Bei seinen Worten brach ihre ganze zur Schau gestellte Zuversicht in sich zusammen, und ihre Zähne begannen
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