Lady Chesterfields Versuchung
tatsächlich zu klappern. Sie wusste, dass es gefährlich gewesen war, aber sie hatte unmöglich tatenlos an Deck stehen bleiben können. „Ich weiß es nicht. Ich dachte … Sie brauchen Hilfe“, erwiderte sie ebenso leise und nahm dankbar zur Kenntnis, dass Michael ihre Hände warm rieb.
„Dass Sie sich das Genick brechen, hätte mir gerade noch gefehlt.“ Er zog sie in seine Arme und wärmte sie mit seinem Körper. Die Fürsorglichkeit der Geste stand im krassen Gegensatz zu seinem harschen Ton. „Sie hätten ums Leben kommen können.“
„Sie auch.“ Sie entzog sich ihm und versuchte, das Zähneklappern zu unterdrücken. „Außerdem wollten Sie, dass ich Ihnen bei der Suche nach Mrs Turner helfe. Und Sie haben ihr Angst gemacht. Zu ihr hinaufzuklettern und sie zu beruhigen schien mir die einzige Möglichkeit, sie heil herunterzubringen.“
Wortlos zog er sie wieder an sich und streichelte ihr über den Kopf und den Rücken. „Machen Sie so etwas nie wieder.“
Wider besseres Wissen schlang sie die Arme um ihn, und er fuhr fort, ihr übers Haar zu streicheln. Sie schloss die Augen und fragte sich voller Wehmut, warum es so viele unüberwindliche Hindernisse zwischen ihnen beiden geben musste.
Er konnte ihr nichts versprechen, selbst wenn er es gewollt hätte. Das wusste sie. Alles, was sie haben konnten, waren ein paar gestohlene Momente. Morgen Abend würden sie in Bremerhaven einlaufen, und wenn alles gut ging, würde sie am Tag darauf bereits bei ihren Verwandten sein.
Zärtlich umfasste Michael ihr Gesicht. „Danke für Ihre Hilfe.“
Überrascht lächelte sie. „Gern geschehen. Ich hoffe nur, dass Mrs Turner sich morgen besser fühlt.“
„Gehen Sie jetzt schlafen.“
„Ich bezweifle, dass ich Ruhe finde.“ Sie war immer noch aufgewühlt von allem, was an diesem Abend geschehen war, und ganz besonders von seinen Liebkosungen. Sie konnte nicht vergessen, wie sehr sie seine Berührungen genossen hatte.
„Michael“, wisperte sie. „Was heute Abend zwischen uns geschehen ist …“
„Wird nicht wieder geschehen.“ Er ließ sie so abrupt los, als habe er sich an ihr die Finger verbrannt.
Augenblicklich war das Gefühl tiefer Scham wieder da. Sie hatte zu viel von sich gegeben, sich ihm zu sehr geöffnet. Sich den fleischlichen Genüssen, die er ihr geboten hatte, hingegeben wie ein liederliches Frauenzimmer. „Gut“, erwiderte sie ausdruckslos. „Dann ist es ja gut.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und hastete zu ihrer Kabine zurück, bevor Michael ihre Tränen bemerken konnte.
Am nächsten Morgen erschien Lady Hannah nicht zum Frühstück im Speisesaal. Estelle teilte dem Botschafter mit, ihre Herrin habe in der Kabine gespeist, und Michael vermutete, dass Hannah nach der aufregenden Nacht ein bisschen Schlaf nachholen wollte.
Doch auch später auf dem Promenadendeck hielt Michael vergeblich nach Hannah und Mrs Turner Ausschau. Obwohl er gern gewusst hätte, wie es den beiden ging, sah er davon ab, einfach an ihre Kabinentür zu klopfen. Er hatte bereits gegen zu viele Regeln des Anstands verstoßen. Vermutlich war es das Beste, wenn er einfach abwartete, bis sie sich zufällig über den Weg liefen.
Doch einfach abzuwarten hielt er nicht aus. Nachdem er in sämtlichen Gesellschaftsräumen des Schiffs nachgesehen hatte, fand er sie schließlich im Großen Salon. Sie trug ein langärmliges, rüschenbesetztes Tageskleid in einem dunklen Rosenholzton, dessen Mieder sich in der Taille zu einem schmalen V verjüngte. Von dem erschöpften Ausdruck in ihrem Blick einmal abgesehen, wirkte sie wie immer. Als sie ihn bemerkte, musterte sie seinen Hals, doch er trug eine breite Krawatte, die die Hautabschürfungen verdeckte.
Neben Hannah saß Mrs Turner in einem schwarzen Samtkleid. Die alte Frau lächelte herzlich, als sie ihn sah. „Michael! Leiste uns doch Gesellschaft!“ Sie deutete auf das Kartendeck in ihrer Hand. „Wir wollten eine Partie Karten spielen.“
Er fragte sich, ob das eine gute Idee war. „Damen sollten das eigentlich nicht tun.“
Mrs Turner wies auf den freien Stuhl neben sich. „Wir haben beschlossen, heute ganz undamenhaft zu sein.“ Sie wandte sich zu Hannah. „Stimmt’s, meine Liebe?“
Jetzt erst fiel ihm der Teller mit dem riesigen Stück Schokoladenkuchen auf, der auf dem Tisch vor Hannah stand, und es hatte beinahe etwas Herausforderndes, wie sie die Gabel in das Gebäck stach, ein Stück davon abteilte und es sich in den Mund
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