Lady Chesterfields Versuchung
Sie bekam keine Luft mehr. Ihre Kopfschmerzen zwangen sie in die Knie. Benommen gab sie jeden Widerstand auf und ließ hilflos geschehen, dass er sie über den Kiesweg vom Haus fortschleifte.
„Sagten Sie nicht, dass sich jede Frau glücklich schätzen würde, mich zu heiraten?“ Hannah sah die rasende Wut in seinen Augen. „Nun, meine Liebe, es sieht ganz danach aus, als wären Sie bald eine überaus glückliche Frau.“
2. KAPITEL
W ütend kehrte Michael in den Ballsaal zurück. Sie unterstellte ihm tatsächlich, dass er das Diamanthalsband an sich genommen hatte! Und alles nur, weil er von niedriger Geburt war und kein Vermögen besaß. Dass er zu einer solch unehrenhaften Tat niemals fähig gewesen wäre, schien Lady Hannah erst gar nicht in Erwägung zu ziehen. Als sie errötet war, hatte er gewusst, dass sie in ihm einen gewöhnlichen Soldaten sah, der eine junge Dame skrupellos ausnutzen würde.
Es stimmte, er hatte eine Schwäche für schöne Frauen – und er näherte sich ihnen prinzipiell nur mit ihrem Einverständnis. Umso erstaunlicher, dass er sich Lady Hannah gegenüber derart kühn hatte verhalten dürfen. Sie hatte ihm weder einen Schlag mit dem Fächer versetzt, noch um Hilfe gerufen, sondern sich äußerst empfänglich für seine Berührungen gezeigt.
Gott, sie duftete einfach wunderbar – so verführerisch und süß wie Jasmin. Er war einfach nicht in der Lage gewesen, ihr zu widerstehen. Am liebsten hätte er ihren Nacken weiter mit Küssen verwöhnt und ihr das elfenbeinfarbene Ballkleid von den Schultern geschoben, um mehr von ihrer seidigen Haut zu enthüllen. Aber dann hätte ihr Bruder ihn wahrscheinlich auf der Stelle umgebracht.
Für gewöhnlich machte Michael sich nichts aus jungen Damen, die einen Ehemann suchten – doch Lady Hannah hatte ihn vom ersten Moment an in ihren Bann geschlagen. Dabei war er sicher gewesen, dass sie ihn – einen einfachen Lieutenant – keines zweiten Blickes würdigen würde.
Im Gegensatz zu den adligen Offizieren, die über entsprechende Geldmittel verfügten, hatte er sich sein Patent nicht kaufen können. Seinen militärischen Rang verdankte er allein dem Einfluss des Earl of Whitmore, dem er vor fünf Jahren das Leben gerettet hatte, und erst seit dem letzten Oktober war Michael wirklich klar, was es bedeutete, ein Kommando zu führen. Damals hatte er Männer in den Tod schicken müssen.
Nachdem sein Captain bei Balaklava gefallen war, hatte er zwar versucht, so vielen Soldaten wie möglich das Leben zu retten. Doch sein Bemühen, den größten Teil seiner Kompanie in Sicherheit zu bringen, war gescheitert. Von sechshundert Mann hatten weniger als zweihundert überlebt – und er war einer von ihnen gewesen.
Seitdem suchten ihn Albträume heim, und selbst jetzt noch glaubte er manchmal, das Einschlagen von Kugeln in menschliche Körper und das Stöhnen der Sterbenden zu hören. Bei der Erinnerung fühlte sich seine Kehle plötzlich staubtrocken an, und er trat an den Tisch mit den Erfrischungen, um sich etwas zu trinken zu holen. Als er an der Terrassentür vorbeiging, fragte er sich, ob er nicht besser nach Lady Hannah sehen sollte. Vermutlich suchte sie immer noch nach ihren Diamanten, und um diese späte Stunde tat eine junge Dame nicht gut daran, sich ohne Begleitung im Freien aufzuhalten.
Noch ehe er jedoch seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, trat Hannahs Bruder Stephen vor ihn hin. Ein distinguiert aussehender älterer Herr begleitete ihn.
„Entschuldige, Thorpe“, sprach ihn der Earl of Whitmore an, „hier ist jemand, der dich unbedingt kennenlernen will.“
Der ältere Gentleman trug einen maßgeschneiderten schwarzen Frackrock. Sein grau melierter Bart war sorgfältig gestutzt, sein Kopf jedoch kahl. Der Griff seines Gehstocks war vergoldet, und jeder Zoll des Unbekannten zeugte von Reichtum. Michael fragte sich, ob der Gentleman vielleicht einen Leibwächter suchte.
„Graf Heinrich von Reischor, der Botschafter des Fürstentums Lohenberg in England“, stellte Stephen seinen Begleiter vor. „Ein alter Freund meines Vaters. Graf von Reischor, Lieutenant Michael Thorpe.“
Lohenberg, dachte Michael unbehaglich. Bei der Erwähnung des Landesnamens beschlich ihn eine unbestimmte Erinnerung, doch er hätte nicht sagen können, an was. Aufmerksam musterte er den Grafen und fragte sich, ob von ihm erwartet wurde, dass er sich verbeugte. Er beschloss, es bei einem höflichen Kopfnicken zu belassen.
Graf von Reischor
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