Lady Marys romantisches Abenteuer
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Unleugbar war das Bild alt, mindestens dreihundert Jahre, und auf eine Holztafel statt auf gerahmte Leinwand gemalt. Eine italienische Arbeit, wahrscheinlich aus Florenz. Kein Künstler aus dem Norden malte so. Der Engel kniete, die vielfarbigen Federn seiner Flügel über dem Rücken auseinandergefächert, und hielt ein orangefarbenes Flammenschwert in den Händen. Sein Heiligenschein war aus dickem Blattgold, seine Gewänder hatten das strahlende Blau, das man damals nur aus zerstoßenem Lapislazuli gewann. Doch das wahre Juwel war des Engels Antlitz, das kämpferische Entschlossenheit ausdrückte – ein streitbarer Wächterengel.
„Ist es nicht schön?“, fragte Lady Mary und beugte sich etwas vor, um das Bild über Johns Arm hinweg sehen zu können. „Schändlicherweise hatte man es offenbar aus etwas Größerem herausgeschnitten, vielleicht einem Altar. Der Rahmen könnte neueren Datums sein.“
John hob erstaunt eine Braue. „Würden Sie es wagen, etwas über seine Herkunft zu sagen?“
Sie war viel zu sehr mit dem Bild beschäftigt, um zu merken, dass sie geprüft werden sollte. „Sicher eine Arbeit aus Florenz, vielleicht vierzehntes Jahrhundert. Die Farbe ist aus diesem eigenartigen Eierzeug, Tempera, nicht Öl – das erkennt man daran, wie glatt die Oberfläche ist, ohne jeden Pinselstrich. Vielleicht ein Giotto oder eine Arbeit aus der Werkstatt Fra Angelicos, wenn nicht sogar vom Meister selbst.“
„Die meisten Engländer würden einem späteren Werk von Guido Reni oder Tizian den Vorzug geben. Sie empfinden frühere Gemälde wie dieses hier als zu grob.“
Sie hob das Kinn, entschlossen, nicht rechthaberisch. „Dann sind die meisten Engländer Narren.“
Eine bemerkenswerte Antwort, dachte John. „Woher wissen Sie, dass es keine Fälschung ist?“
Ihr Blick glitt vom Bild zu John. „Ich weiß es nicht“, gestand sie zögernd. „Es könnte letzte Woche von irgendeinem talentierten Kriminellen gemacht worden sein, und ich wäre auch nicht klüger. Ich weiß nur, was ich gelesen und was ich an Stichen und Holzschnitten in Büchern gesehen habe. Und ich kenne einige alte italienische Gemälde, die ein Nachbar von uns besitzt. Daher kenne ich den Unterschied zwischen Tempera und Öl.“
„Das ist alles?“, fragte er, schon wieder überrascht. Wenn das alles die Summe ihrer Gelehrsamkeit war, dann hatte sie das Bild wirklich sehr gut eingeschätzt. „Nur, was Sie aus Büchern und von wenigen Originalen gelernt haben?“
Sie nickte und lächelte wehmütig. „Wahrscheinlich werden Sie mich jetzt auslachen, wenn ich Ihnen etwas gestehe, aber das Gemälde selbst sagt es mir. Die Farben und der Gesichtsausdruck des Engels, selbst die Verzierung am Saum seines Gewandes und das Muster auf seinen Flügeln – alles erscheint mir so zauberhaft, dass ich mir sicher bin, das Bild ist echt. Wie könnte irgendjemand solch eine Fälschung anfertigen?“
John lachte nicht. Wie hätte er auch können, wenn sie ihn mit solcher Überzeugung unter ihren dichten Wimpern hervor ansah?
„Und Sie behaupten, eine unwissende Anfängerin zu sein, Mylady“, meinte er anerkennend. „Ein Bild spricht nur zu Kunstkennern. Trotz Ihrer Unerfahrenheit besitzen Sie schon die Weisheit, ihm zu lauschen.“
„Na also, Mylord, jetzt verstehen Sie, warum ich dieses Bild nicht verkaufen kann!“
Wieder unternahm Dumont einen fruchtlosen Versuch, nach dem Bild zu greifen, das immer noch außerhalb seiner Reichweite war. „Selbst diese junge Dame erkennt seinen Wert, seine Bedeutung!“
„Was diese Dame erkennt, Monsieur Dumont, ist, dass dieses Bild mein ist“, sagte sie mit erneuter Entschlossenheit. „Beziehungsweise, dass es mein sein wird, wenn wir uns über den Preis geeinigt haben.“
„Nennen Sie ihn, Dumont“, rief John. „Was immer Sie verlangen, ich zahle es und mache das Bild der Dame zum Geschenk.“
Sie schnappte nach Luft, kniff ihre Augen zusammen und sah ihn missbilligend an. „Ganz bestimmt werde ich solch ein Geschenk von Ihnen nicht annehmen, Lord John! Ich habe vor, wie es sich gehört, selbst das Bild zu kaufen!“
„Darüber können wir streiten, wenn Dumont den Preis festgesetzt hat.“ Finster blickte John auf den Franzosen hinunter und hoffte, ihn so einschüchtern zu können. Er war sich sicher, dass Dumont mit jedem Detail, das Lady Mary beschrieb, den Preis höher und höher angesetzt hatte. Jetzt war es an John, den Preis wieder herunterzuschrauben. „Seien Sie so
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