Laessliche Todsuenden
eine tiefe Schürfwunde, die sie versucht hatte zu überschminken. Sie war fast krankhaft blass, aber das war ja damals modern, ihre kurzen schwarzen Haare standen in alle Richtungen, sie kaute an den Nägeln und rauchte, ein unklar verletzter, missgelaunter Troll. An der roten Wunde, die Rument so magisch angezogen hatte, war gar nichts Dramatisches gewesen, ein Sturz vom Fahrrad, nichts weiter.
Und doch hatte Joana ein dunkles Geheimnis. Es machte Rument glücklich, dass von allen er es war, mit dem sie es schließlich teilte. Beide betrachteten das später als den eigentlichen Beginn ihrer Liebe, nicht diese unklare Angelegenheit nach durchzechter Nacht im ›Jakobinerwirt‹, auf Martins blanker Gästematratze, wo Rument sich so sehr bemühte, Joana ihm aber nicht den geringsten Hinweis darauf gab, ob ihr irgendetwas gefiel. Sie rochen beide nach Rauch und altem Fett, ›Jakobinerwirt‹-Geruch. Rument konnte das ausblenden, aber sie lag nur da, mit offenen Augen, wie er mit Scham und Erschrecken feststellte, als er die seinen nach einer Weile wieder öffnete.
Der eigentliche Beginn war ein Spaziergang über den Jüdischen Friedhof, ein paar Wochen später. Im Mausoleum der Familie Feyngoldt saßen sie und tranken aus einer Rotweinflasche, während die Herbststürme das Laub hin und her jagten. Dann küssten sie sich lange, und Ruments Hände, die so gerne Vorboten sein wollten, suchten unter Joanas Lederjacke, Pullover, T-Shirt und Unterhemd nach Haut. Dass Maximilian und Feiga Feyngoldt nichts dagegen haben würden, wenn er hier, im Schutz ihres steinernen Tempels, mit Joana etwas anstellte, dessen war er sich sicher. Leider waren die toten Feyngoldts nicht die einzigen, die einverstanden sein mussten. Die Erinnerung an die verwirrenden Fehlschläge der letzten Wochen rang mit Ruments neuer, begehrlicher Entschlossenheit. Das wird schon, redete er sich ein, als er, recht unbequem, vor Joana kniete, seinen bekleideten Oberschenkel zwischen ihren Beinen und noch nicht einmal ihren BH offen. Das wird schon, das wird schon. Da wurde sie plötzlich ganz steif, klammerte sich an ihn, stieß nur ein bisschen Luft aus und machte sonst kein Geräusch. Rument hielt sie lange fest in den Armen und konnte sein Glück nicht fassen. Erst Jahre später wurde zu seiner geheimsten, schmutzigsten Phantasie, was ihm damals nicht in den Sinn gekommen war: Dass er diese Situation ausgenützt hätte, dass er sich nahm, was nun, nach landläufiger Rechnung, seins gewesen war. Dass er sich benommen hätte wie ein typischer, ja, verdammt, ein Mann eben, einfach drauf und durch, und nicht immer zögern und zurückschrecken beim kleinsten Widerstand, was heißt Widerstand, beim geringsten Zeichen fehlender Begeisterung, die man, überempfindlich, gleich als Kritik verstand.
Nein, Rument verhielt sich sensibel. Er glaubte an Vertrauen, das auf diesem komplizierten Gebiet grundsätzlich aufzubauen war, und er war zutiefst gerührt von Joanas Vertrauensbeweis, den er soeben erhalten hatte. Und dann kam es ja noch dicker, dann, nach einer kleinen Ewigkeit, nachdem sie sich aus seinen Armen befreit und, ohne ihn anzusehen, eine Zigarette geraucht hatte, dann erzählte sie ihm ja auf einmal alles, ohne Rücksicht, mit groben, hässlichen Worten, die sie selbst am meisten verletzten, das war eben Joana, und somit gehörte sie ihm.
Seiner Mutter und den Freunden sagten sie nur die halbe Wahrheit. Dass Joanas Eltern mit dem Baby aus Polen geflüchtet seien, der Vater einst aufstrebender Regisseur an der Warschauer Filmhochschule, der aber nun für die Wetterredaktion des Fernsehens arbeite und täglich traumschöne Schwenks über die Landschaften der neuen Heimat drehe. Dass die Mutter, früher Lehrerin, seither leider aufs Haus zurückgeworfen sei und dort, unter all den anderen Emigranten, die neue Sprache einfach nicht mehr erlernt hatte, weshalb sie kaum einen Fuß vor die Siedlung setze. Man musste das verstehen. Sie klammert sich an das letzte Stück Vertrautheit, so formulierte es Rument manchmal, während Joana mit ausdruckslosem Gesicht daneben saß und rauchte.
Weitere Fragen hätte Joana abgewehrt. Von ihrer Muttersprache verbarg sie noch das Mindeste, sie zog keine Vergleiche, sie deutete nichts an, niemand hätte von ihr erfahren, dass man dort auch in »Deka« maß und Stempelmarken klebte, nichts davon, schlimm genug, dass Joana das typische »r« nicht los wurde, sosehr sie sich bemühte. Aber es fragte auch niemand. Ruments
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