Laessliche Todsuenden
richtig machen könne, antwortete er, müsse man nur danach trachten, das offensichtlich Falsche zu vermeiden.
An dieser Stelle hakte machtvoll Gabi ein und zog uns, grell und indezent, tief in die Unterwelt ihrer Scheidung. Sie widerlegte so unwissentlich wie schlagend Haybachs angedeutete These, dass es eine übergeordnete Vernunft geben müsse. Sie war der lebende Beweis dafür, dass die meisten Menschen, zu ihrem und dem Unglück ihrer Nächsten, nur die Fabel ihrer eigenen Verletztheiten kennen und keine andere für möglich halten. Bizarrerweise schien sie sich für Haybachs Verbündete zu halten, ein weiteres Opfer von zu Monstern gewandelten Expartnern und einer mindestens fehlgeleiteten, wenn nicht beeinflussbaren Justiz.
Mir war das längst zu viel Leben. Ich stand auf und ging zur Toilette, um mir ausgiebig die Hände zu waschen. Ich betrachtete mich im Spiegel, ich entdeckte eine winzige dunkelrote Spur an meinem Kragen, gewiss von Ilkas Lippenstift. Das war mir ausnahmsweise egal, denn wo sollte man seine Male zeigen, wenn nicht hier? Als ich den Gastraum des ›Kore‹ wieder betrat, hallte er immer noch von Gabis Anklagen wider. Ich ging zur Bar, bestellt mir einen Obstler und blieb stehen. Dort entdeckte mich Mia Haybach, die ebenfalls von der Toilette kam. »Darf ich zu Ihnen ins Rettungsboot?«, fragte sie, und ich schob ihr einen Hocker zu. Sie zeigte auf meinen Schnaps, nickte der Kellnerin zu und setzte sich.
»Nun lassen also sogar Sie Ihren Mann im Stich?«, begann ich herausfordernd. »Ich habe seinen Standpunkt immer für den richtigen gehalten«, antwortete sie ernst, »erst in letzter Zeit frage ich mich, ob man sich wirklich so sicher sein kann.«
Wir stießen an. Sie trank den Schnaps in einem Zug aus, stellte das leere Glas mit einem Knall auf die Theke und bestellte eine Flasche Mineralwasser, still. Sie sah der Kellnerin nachdenklich beim Suchen zu, stilles Wasser schien hier nicht gefragt zu sein. Ich überlegte, ob eine Bevorzugung der Kohlensäure ursächlich mit dem Friedhof zusammenhängen konnte, das Prickeln des Lebens, die Belebung der Sinne, und fragte mich, ob ich schon betrunken war.
Solange er im Dorf lebte, hatte sich Percass offenbar an Tichy abreagiert, wo er konnte, während der ängstliche Rument nur noch mehr an seiner Mutter hing. »Du bist wie dein Vater«, soll die erste Frau Haybach Percass einmal im Streit vorgehalten haben, »Na hoffentlich«, habe der fast Siebzehnjährige geantwortet. Und so sei es auch gewesen, sagte Mia Haybach; Percass, der äußerlich so sehr der Mutter geähnelt habe, habe sie vom Wesen her immer an den Vater erinnert, stark, selbstsicher, ringsum beliebt oder auch gefürchtet, je nachdem. »Sie haben die Massen ja gesehen, am Friedhof«, sagte sie und deutete in Richtung des Erkerfensters, »der halbe Studienjahrgang, alles seine Freunde, Jünger, Verehrerinnen.«
Bei Tichy hatte sich Percass später für seine pubertären Quälereien entschuldigt. Doch es gelang ihm nie, seinen Bruder zurückzuerobern. Denn Percass war von der Idee besessen, Rument zu bekehren. Er sollte anerkennen, dass ihnen auch von der Mutter Gewalt angetan worden sei, die absichtliche Entfremdung vom Vater, das Exil im geistlosen Dorf, die Indoktrinierung, die emotionale Erpressung mit den immer zum geeigneten Zeitpunkt eintretenden Herz- und Nervenkrankheiten. Doch das ließ Rument nicht zu. Er wollte davon nichts wissen, er beharrte auf den zu respektierenden, verschiedenen Standpunkten, auf Verletzungen aufseiten der Mutter und darauf, dass Einmischung und Bewertung der Kinder nicht nur unstatthaft seien, sondern auch »gar nichts brächten«, denn die Wahrheit liege doch »meistens in der Mitte«. Wenn er mit solchen Phrasen kam, appellierte Percass empört an Ruments Intelligenz, was zur Entspannung nicht beitrug. Bald verweigerte Rument sich diesen Diskussionen ganz, und die beiden hatte nur mehr sporadisch Kontakt. Das war das Gegenteil dessen, was Percass gewollt hatte, der sich, all seiner sozialen Strahlkraft zum Trotz, plötzlich so nach seinem kleinen Bruder, seinem vertrautesten Verbündeten zu sehnen begann.
Kriege ziehen manchmal fragwürdige Frontlinien. Percass das Vater-, Rument das Mutterkind. Percass der Rebell, Rument der Anpassler. Aber man könne das auch anders sehen, meinte Mia. Rument habe gelernt, das Verbindende zu suchen, Percass das Trennende. Wahrscheinlich lagen ihre Neigungen genau andersherum.
»Sind Sie Psychologin?«,
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