Lallbacken
Jahre den Bundespräsidenten zu wählen. In jedem normalen Unternehmen hätte man die längst gefeuert und den Bundespräsidenten in Taiwan herstellen lassen. Zum Bundespräsidenten wird nicht der gewählt, den alle für den Geeignetsten halten, sondern der, auf den sich die meisten einigen können. Der Bundespräsident ist also auch immer der kleinste gemeinsame Nenner.
Ein Bundespräsident kann Gesetze unterschreiben und Reden halten, wann und wo immer es ihm passt, sogar an Weihnachten von zu Hause aus. Die Reden finden aber nur selten offene Ohren. Eine Umfrage ergab: Wenn deutsche Autofahrer im Stau stehen, denken 8,3 Prozent an den Spritverbrauch, zehn Prozent an die Familie, und die meisten Autofahrer denken im Stau an Sex. Niemand denkt an den Bundespräsidenten. Aber sechs Prozent denken an gar nichts. Da könnten sie genauso gut an den Bundespräsidenten denken.
Nach Ansicht des Bundespräsidenten Johannes Rau war die Politikverdrossenheit der Bevölkerung vor allem auf die unverständliche Sprache von Politikern und verkürzte Wiedergabe in den Medien zurückzuführen. Immer weniger Menschen verstünden, worum es bei vielen politischen Entscheidungen gehe, meinte er. Das hieß: Er hielt immer mehr Menschen für blöde.
Gegenfrage: Wofür hielten die ihn?
Andererseits wollte Bundespräsident Johannes Rau sich auch nicht mit seinem Volk anlegen: »Besonders desaströs ist der Eindruck, wenn die Vorgänge im Zusammenhang stehen oder in die Nähe gebracht werden mit Korruption und unzulässiger Einflussnahme wie Bestechung oder Vorteilsannahme.«
Das kann man wohl sagen. Aber desaströs ist Gott sei Dank nur der Eindruck, die Tatbestände Korruption und Bestechung selbst sind so schlimm nicht. Und was der Bundespräsident ganz außer Acht lässt: Ein Desaster sind auch seine ausgelutschten Phrasen. Als führender Politiker der Kollegenschaft ins Gewissen zu reden – wen soll das beeindrucken? Politiker wecken bei den Leuten nun mal Missmut, Häme, Ablehnung und Desinteresse. Es wäre hilfreicher gewesen, hätte Herr Rau die Politiker in Schutz genommen und stattdessen auf den Pöbel eingedroschen. Die Leute glauben doch, sie könnten sich alles erlauben. Aber die werden nicht durch die Gazetten gezerrt oder zum Rücktritt genötigt.
Wer zieht sich denn massenhaft Ekelshows auf RTL rein? Wer kauft jeden Tag Bild und holt sich bei fremder Leute Bett- und Klatschgeschichten einen runter? Wer stürzt sich gierig auf irgendwelche Hightechaktien und macht dann die Regierung für Vermögensverluste verantwortlich? Wer lässt Handwerker monatelang auf ihren Rechnungen sitzen und beklagt den Niedergang des Mittelstands? Wer nennt Politiker ahnungslose Arschlöcher und kann sich selber nicht mal den Unterschied zwischen Bundestag und Bundesrat merken? Wer drängelt auf der Autobahn, bescheißt beim Finanzamt, erzählt sexistische Witze, mobbt Kollegen und giert aufs Erbe? Wer baut denn diesen ganzen Mist und hat trotzdem das Wahlrecht? Das alles mal anzuprangern, da traute er sich nicht ran, der Hohlschwatzexperte, der frömmelnde. Nein, Johannes Rau sah das Vertrauen in die Politik durch die Volksvertreter gefährdet.
Allerdings: Wie kaum ein anderer reiste er für Deutschland durchs Universum, etwa nach Grönland. Dort wie anderswo lobte er die »guten gewachsenen Beziehungen, die auf gemeinsamen Werten und Grundüberzeugungen« beruhen, stets fand er die richtigen Worte in dieser Stunde der Besinnung, er war Mahner, Warner, Deuter und Künder. Außerdem trachtete er. Er trachtete ununterbrochen. Und das tat er in beeindruckendem Glauben an die Kraft des Glaubens durch seinen Glauben an das Menschliche in der Menschlichkeit, und niemand, der dabei war, wird es je vergessen, wie er im Schloss Bellevue auf einen kristallenen Spiegel zuschritt und sich über alle Grenzen hinweg versöhnend alle Hände reichte.
Gegen Ende seiner Bundespräsidentschaft bekannte Johannes Rau: »Vieles war nicht gut, und das würde ich heute anders machen. Und ich stehe auch nicht an zu sagen …«
»Ich stehe nicht an« hieß übersetzt: Es macht mir nichts aus. Also, er stand nicht an zu sagen: »Dafür entschuldige ich mich. Ich habe vielleicht Fehler gemacht, gewiss Fehler gemacht, wer täte das nicht. Aber ich habe nichts getan, was moralisch anrüchig ist.« Präzise zu sagen, welche Fehler er gemacht hat: Da stand er doch an. Er entschuldigte sich also. Das war sein Politikerdeutsch. Denn genau genommen konnte er bestenfalls
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