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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Brief las, erreichte dieser Antrag Quinnipak erst zwölf Tage nachdem eine zwanzig Kilo schwere Kanonenkugel die Heiratschancen des Leutnants unvermittelt auf Null reduziert hatte – sowie überhaupt seine Chancen, noch irgend etwas zu tun. Die gute Frau schickte drei Briefe an die Front, in denen sie sich mit zunehmender Eindringlichkeit mit der Heirat einverstanden erklärte. Alle drei kamen zurück, zusammen mit der offiziellen Sterbeurkunde des Leutnants Charlus Abegg. Eine andere Frau wäre vielleicht verzweifelt. Sie nicht. Angesichts der Unmöglichkeit, über eine glückliche Zukunft zu verfügen, konstruierte sie sich eine glückliche Vergangenheit. Sie teilte der Einwohnerschaft von Quinnipak mit, daß ihr Ehemann auf dem Feld der Ehre gefallen sei und daß sie von nun an Witwe Abegg genannt werden wolle. In ihren Reden tauchten immer öfter lustige Anekdoten aus dem früheren – und hypothetischen – Eheleben auf. Nicht selten kam es vor, daß sie als gravitätischen Kehrreim die Redensart »Wie mein lieber Charlus immer sagte …« verwendete, die von nicht gerade spritzigen, aber vernünftigen Lebensprinzipien begleitet wurde. In Wahrheit hatte der Leutnant diese Dinge nie gesagt. Er hatte sie geschrieben. Aber das machte – für die Witwe Abegg – keinen Unterschied. Sie war praktisch drei Jahre lang mit einem Buch verheiratet gewesen. Es gibt seltsamere Ehen.
    Wie man den eben geschilderten Fakten auch entnehmen kann, war Mrs. Abegg eine Frau von bemerkenswerter Phantasie und soliden Gewißheiten. Von daher muß die Sache mit Pehnts Jacke nicht weiter verwundern, die überdies nahelegt, der Witwe Abegg auch einen unverkennbaren Sinn für das Schicksal zuzugestehen. Als Pehnt sieben Jahre alt wurde, holte sie die schwarze Jacke, in der man ihn gefunden hatte, aus dem Schrank und zog sie ihm an. Sie reichte ihm bis über die Knie. Der oberste Knopf befand sich in Höhe seines Pimmelchens. Die Ärmel hingen tot herunter.
    »Hör gut zu, Pehnt! Diese Jacke hat dein Vater hiergelassen. Wenn er sie dir vererbt hat, dann gewiß aus gutem Grund. Also versuch das zu verstehen. Du wirst heranwachsen. Und das wird so vor sich gehen: Wenn du eines Tages so groß bist, daß sie dir wie angegossen paßt, wirst du dieses unbedeutende Städtchen verlassen und dein Glück in der Hauptstadt suchen. Wenn du aber nicht so groß wirst, dann bleibst du eben hier und wirst trotzdem glücklich, denn wie sagte mein lieber Charlus immer: ›Glücklich ist die Blume, die dort geboren wird, wo der Herr sie gesät hat‹. Noch Fragen?«
    »Nein.«
    »Gut.«
    Pekisch billigte den irgendwie militärischen Stil, zu dem Mrs. Abegg bei wichtigen Anlässen überging, nicht immer – ein deutliches Überbleibsel der langen Gewöhnung an ihren Ehemann, den Leutnant. Doch gegen die Sache mit der Jacke hatte er nichts einzuwenden. Er fand, daß diese Worte einen Sinn ergaben und daß im Nebel des Lebens eine Jacke durchaus ein nützlicher und maßgebender Anhaltspunkt sein konnte.
    »So groß ist sie ja gar nicht. Du wirst es schon schaffen«, sagte er zu Pehnt.
    Um das Vorhaben leichter zu machen, tüftelte die Witwe Abegg einen klugen Speiseplan aus, der ihre spärlichen finanziellen Möglichkeiten (das Ergebnis einer Armeepension, die ihr zu gewähren faktisch nie jemand auf die Idee gekommen war) geschickt mit dem Grundbedarf des Jungen an Kalorien und Vitaminen in Einklang brachte. Pekisch für sein Teil lieferte Pehnt einige nützliche Gewißheiten, zu denen nicht zuletzt auch die goldene Regel gehörte, nach der die einfachste Methode zu wachsen die ist, so viel wie irgend möglich zu stehen.
    »Es ist ungefähr so wie mit der Stimme in den Rohren. Wenn das Rohr gekrümmt ist, kann die Stimme nicht so leicht hindurch. Mit dir ist es genauso. Nur wenn du aufrecht stehst, kann die Kraft, die du in dir hast, ungehindert wachsen, ohne um Krümmungen kommen zu müssen und Zeit zu verlieren. Stell dich hin, Pehnt, halte das Rohr so gerade du kannst!«
    Pehnt hielt das Rohr so gerade er konnte. Das erklärte auch, warum er Stühle zwar benutzte, aber nur, um darauf zu stehen.
    »Nimm Platz, Pehnt!« sagten die Leute.
    »Danke«, sagte er und stellte sich auf den Stuhl.
    »Das ist ja nicht gerade das Höchste an guter Kinderstube«, sagte die Witwe Abegg.
    »Kacken ist auch kein Vergnügen. Aber es hat seine Vorteile«, sagte Pekisch.
    Und so wuchs Pehnt heran. Indem er zum Mittag und zum Abendbrot Eier aß, auf Stühlen stand und pro

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