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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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der der Mensch die Fähigkeit erlangt, sich wie ein Gott zu bewegen – ein Ritus wie der mit der Uhr der Grand Junction –, wohlgemerkt als jede Stadt noch ihre eigene Stunde, also ihre eigene Zeit hatte, zahllose verschiedene Zeiten, jede Stadt ihre eigene, wenn es hier 14.25 Uhr war, konnte es dort 15 Uhr sein, jede Stadt mit ihrer eigenen Uhr – und die Grand Junction war eine Eisenbahnlinie, eine der ersten Eisenbahnlinien, die überhaupt gebaut worden waren, und sie lief wie ein Sprung durch eine Vase über Land und Meer von London nach Dublin – die Bahn fuhr und nahm ihre eigene Zeit mit, die wie ein Öltropfen auf einer nassen Glasscheibe durch die anderen Zeiten glitt, und sie hatte ihre eigene Uhrzeit, die während der ganzen Reise allen anderen trotzen und dann unversehrt heimkehren mußte, ein unversehrtes Juwel, damit jeder Augenblick wußte, ob er ein verspäteter oder ein verfrühter Augenblick war, damit sich jeder Augenblick selbst erkennen und somit nicht abhanden kommen und sich somit retten konnte – ein fahrender Zug mit seiner Uhrzeit im Leib, die taub gegen alle anderen ist – für diesen Zug schuf der Mensch einen elementaren und heiligen Ritus:
    »Jeden Morgen übergab ein Bote der Admiralität dem Diensthabenden des Postzugs London-Dublin eine Uhr, die die genaue Zeit anzeigte. In Holyhead wurde die Uhr an die Besatzung des Kingstoner Fährschiffs weitergereicht, das sie nach Dublin brachte. Auf der Rückfahrt gab die Besatzung des Kingstoner Fährschiffs die Uhr wieder an den Diensthabenden des Postzugs zurück. Wenn der Zug dann in London eintraf, wurde die Uhr wieder dem Boten der Admiralität ausgehändigt. Und das Tag für Tag, viele hundert Tage lang.«
    Es war die Zeit, als es an der Bahnstation von Buffalo drei Uhren gab, jede mit einer anderen Zeit, und an der Station Pittsburgh waren es sechs, für jede vorbeiführende Bahnlinie eine – es war das Babel der Uhrzeiten – und so erklärt sich auch der Ritus des Postzugs London-Dublin, diese Uhr, die in einem mit Samt ausgeschlagenen Kästchen hin und her reist und von Hand zu Hand geht, kostbar wie ein Geheimnis, kostbar wie ein Juwel …
    (Es war einmal ein Mann, der fortging, durch die Welt reiste, und wenn er zurückkehrte, kam vor ihm, in einem mit Samt ausgeschlagenen Kästchen, ein Juwel an. Die Frau, die auf ihn wartete, öffnete das Kästchen, sah das Juwel und wußte dann, daß er zurückkehrte. Die Leute glaubten, es sei ein Geschenk, ein kostbares Geschenk für jede Flucht. Das Geheimnis aber war, daß es immer dasselbe Juwel war. Die Kästchen wechselten, doch es war immer dasselbe. Es brach mit dem Mann zusammen auf, blieb bei ihm, wohin er auch fuhr, ging von Koffer zu Koffer, von Stadt zu Stadt und kehrte schließlich zurück. Es kam aus den Händen der Frau und kehrte dahin zurück, genau wie die Uhr in die Hände des Admirals zurückkehrte. Die Leute glaubten, es sei ein Geschenk, ein kostbares Geschenk für jede Flucht. Dabei war es im Labyrinth der Welten, durch die der Mann wie ein Sprung durch eine Vase lief, das, was das Band ihrer Liebe bewahrte. Es war die Uhr, die die Minuten der anomalen – und einzigen – Zeit zählte, der Zeit ihrer Sehnsucht nacheinander. Es kehrte vor dem Mann zurück, damit sie wußte, daß in ihm, dessen Ankunft bevorstand, das Band dieser Zeit nicht zerrissen war. So kam der Mann schließlich an, und es war nicht nötig, etwas zu sagen, etwas zu fragen oder etwas zu wissen. Der Augenblick, in dem sie sich sahen, war für alle beide wieder ein und derselbe.)
    … kostbar wie ein Geheimnis, kostbar wie ein Juwel – eine Uhr, die das Eisenbahnnetz zusammenhielt, die London und Dublin miteinander verband, damit sie nicht in ein Babel unterschiedlicher Zeiten und Stunden abdrifteten – das gibt zu denken – das gibt wirklich zu denken – das gibt zu denken. An Züge. An den Schock der Eisenbahn.
    Sie hatten sie vorher nie gebraucht, die ewige Leier mit der Uhr. Niemals. Weil es keine Eisenbahn gab. Sie existierte nicht einmal in ihrer Phantasie. Damals war das Reisen von einem Ort zum anderen eine so langsame, so zusammenhanglose, so zufällige Angelegenheit, daß die Zeit dabei ohnehin verlorenging und niemand auf die Idee gekommen wäre, sich dem zu widersetzen. Widersetzt haben sich nur ein paar allgemeine Unterscheidungsmerkmale – die Morgenröte, der Sonnenuntergang. Der Rest bestand aus Momenten, die in einem einzigen großen Brei von Augenblicken aufgelöst waren.

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