Land aus Glas
unbekannten Größen des Daseins zu überstehen (die genau so zahlreich waren): Er betrachtete die Welt, sah eine endlose Menge von Dingen, Menschen und Situationen und begriff, daß man schon allein um die Namen von all dem zu lernen – sämtliche Namen, einen nach dem anderen – ein ganzes Leben brauchen würde. Ihm entging nicht, daß dahinter ein gewisser Widersinn steckte.
»Es gibt zuviel Welt«, dachte er. Und suchte nach einer Lösung.
Die Idee kam ihm, wie es so häufig geschieht, bei der logischen Verallgemeinerung einer banalen Erfahrung. Angesichts des x-ten Einkaufszettels, den Mrs. Abegg ihm in die Hand drückte, bevor sie ihn zum Kaufhaus Fergusson und Söhne schickte, begriff Pehnt in einem Augenblick noumenischer Erleuchtung, daß der Trick darin bestand, alles aufzulisten. Wenn man sich alles, was man nach und nach lernte, aufschrieb, hätte man am Ende eine vollständige Aufstellung aller wissenswerten Dinge – jederzeit abrufbar, erweiterbar und hilfreich bei eventuellen Gedächtnislücken. Er ahnte, daß eine Sache aufzuschreiben bedeutet, sie zu besitzen – eine Vorstellung, zu der ein nicht unbedeutender Teil der Menschheit neigt. Er stellte sich Hunderte mit Wörtern angefüllte Seiten vor und spürte, daß die Welt ihm schon weit weniger Angst machte.
»Keine schlechte Idee«, meinte Pekisch. »Natürlich kannst du nicht alles in dieses Heftchen schreiben, aber es wäre schon viel, wenn die wichtigsten Sachen drinstünden. Du könntest dir eine Sache pro Tag aussuchen, ja, das ist gut. Man muß sich Regeln setzen, wenn man sich so was vornimmt. Jeden Tag eine Sache. Das müßte gehen … Dann könntest du in zehn Jahren auf dreitausendsechshundertdreiundfünfzig gelernte Sachen kommen. Das wäre schon eine gute Grundlage. Eins von den Dingen, die dich morgens ruhiger aufwachen lassen. Das wird nicht umsonst sein, mein Junge.«
Pehnt leuchtete das ein. Er entschied sich für die Variante »Eine Sache pro Tag«. Zu seinem achten Geburtstag schenkte Pekisch ihm ein Heft mit violettem Umschlag. Noch am selben Abend begann er mit der gewissenhaften Arbeit, die ihn jahrelang begleiten sollte. Im nachhinein gelesen, verrät die erste Eintragung einen für die methodologische Strenge der Wissenschaft besonders empfänglichen Geist.
I. Die Dinge – sie aufschreiben, um sie nicht zu vergessen.
Von diesem Grundsatz aus entwickelte sich Pehnts Buch des Wissens Tag für Tag in die verschiedensten Richtungen. Wie jedes Verzeichnis bewies auch dieses eine klare Neutralität. Die Welt war darin zwangsläufig bruchstückhaft wiedergegeben, doch strikt ohne jede Hierarchie. Die immer sehr knappen, nahezu im Telegrammstil gehaltenen Eintragungen ließen einen Geist erkennen, der schon früh um die weitverzweigte und vielgestaltige Natur des Rätsels des Lebens wußte: warum der Mond nicht immer gleich aussieht, was die Polizei ist, wie die Monate heißen, wann man weint, Sinn und Zweck eines Fernglases, die Ursachen für Durchfall, was Glück ist, ein schnelles System zum Binden von Schnürsenkeln, Städtenamen, die Nützlichkeit von Totenbahren, wie man ein Heiliger wird, wo die Hölle ist, Grundregeln für das Forellenangeln, Liste der in der Natur vorkommenden Farben, das Rezept für Milchkaffee, die Namen berühmter Hunde, wo der Wind bleibt, die Festtage des Jahres, auf welcher Seite das Herz sitzt, wann die Welt aufhört. Solche Sachen.
»Pehnt ist wunderlich«, sagten die Leute.
»Das Leben ist wunderlich«, sagte Pekisch.
Pekisch war nicht Pehnts richtiger Vater. Weil nämlich Pehnt keinen richtigen Vater hatte. Und auch keine Mutter. Mit anderen Worten, die Sache war nicht so einfach.
Man hatte ihn in eine schwarze Männerjacke gewickelt auf der Schwelle der Kirche von Quinnipak gefunden, als er gerade zwei Tage alt war. Die Witwe Abegg, eine etwa fünfzigjährige Frau, die in der ganzen Stadt einen guten Ruf hatte, nahm ihn auf und zog ihn groß. Strenggenommen hieß sie gar nicht Abegg, und strenggenommen war sie auch keine Witwe. Mit anderen Worten, die Sache war komplizierter.
Etwa zwanzig Jahre zuvor hatte sie auf der Hochzeit ihrer Schwester einen gutaussehenden und mäßig ehrgeizigen Leutnant kennengelernt. Mit ihm unterhielt sie drei Jahre einen regen und zunehmend vertraulichen Briefwechsel. Der letzte Brief, den sie vom Leutnant bekam, enthielt einen zaghaften, aber eindeutigen Heiratsantrag. Durch ein Phänomen wie das, das Pekisch getroffen hatte, als er Marius Jobbards
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