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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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Tag eine Wahrheit in ein violettes Heftchen schrieb. Er lief mit dieser riesengroßen Jacke am Leib umher, wie ein Brief in einem Umschlag unterwegs ist, auf dem sein Bestimmungsort steht. Er lief in sein Schicksal gewickelt umher. Wie übrigens alle Menschen, nur daß man es bei ihm mit bloßem Auge erkennen konnte. Er hatte die Hauptstadt nie gesehen, und er konnte sich nicht genau vorstellen, wonach er strebte. Aber er hatte verstanden, daß das Spiel irgendwie darin bestand, groß zu werden. Und er setzte alles daran, zu gewinnen.
    Doch nachts unter der Bettdecke, wo ihn niemand sehen konnte, rollte er sich mit leichtem Herzklopfen so still wie möglich und so sehr er konnte zusammen, einfach so, und wie ein verbogenes Rohr, durch das keine Stimme gelangen konnte, auch dann nicht, wenn man sie mit einer Kanone hineinschoß, schlief er ein und träumte von einer Jacke, die für immer und ewig zu groß war. 

 
Zwei

1
     
    Jun hatte ihren Kopf auf Mr. Rails Brust gelegt. Sich so zu lieben, in der Nacht, in der er zurückkam, war etwas schöner, etwas leichter und etwas komplizierter als in jeder anderen Nacht. Es lag ein Bemühen darin, sich an etwas zu erinnern. Es lag die leichte Sorge darin, irgend etwas zu entdecken. Es lag das Bedürfnis darin, daß es auf jeden Fall wunderschön sein möge. Es lag ein etwas ungeduldiges, etwas wildes Verlangen darin, das mit Liebe nichts zu tun hatte. Es lag eine Menge darin.
    Danach – danach war es, als finge man auf einem leeren Blatt wieder zu schreiben an. Welche Reise Mr. Rail auch immer in die Welt hinausgeführt hatte, sie verschwand im Wasserglas dieser halben Stunde der Liebe. Man begann wieder dort, wo man aufgehört hatte. Sex löscht Teile des Lebens aus, wie man es sich nicht mal im Traum vorstellen kann. Es mag sogar dumm sein, doch die Leute umklammern sich mit diesem seltsamen, etwas panischen Ungestüm, und das Leben geht zerknautscht daraus hervor wie ein fest in der Hand gehaltenes und mit einem nervösen Anflug von Angst verstecktes Briefchen. Teils durch Zufall, teils durch Glück verschwinden in den Falten dieses zusammengeknüllten Lebens die schmerzlichen oder feigen oder nie verstandenen Überreste der Zeit. Einfach so.
    Jun hatte ihren Kopf auf Mr. Raus Brust gelegt, und ihre Hand strich über seine Beine und schloß sich zuweilen um sein Geschlecht, glitt auf ihm nach oben, kehrte um und drängte sich wieder zwischen seine Beine – es gibt nichts Schöneres als die Beine eines Mannes, dachte Jun, wenn sie schön sind.
    Mr. Rails Stimme drang leise zu ihr, in den Hauch eines Lächelns gehüllt.
    »Jun, du kannst dir nicht vorstellen, was ich diesmal gekauft habe.«
    Sie konnte es sich wirklich nicht vorstellen. Sie hockte sich auf ihn und streifte seine Haut mit den Lippen – es gibt nichts Schöneres als Juns Lippen, dachten die Leute, wenn sie etwas streiften.
    »Du könntest die ganze Nacht herumrätseln, du würdest es nicht erraten.«
    »Wird es mir gefallen?«
    »Natürlich wird es dir gefallen.«
    »Gefällt es mir so sehr, wie mit dir zu schlafen?«
    »Viel mehr.«
    »Dummer Kerl!«
    Jun schaute zu ihm hoch, sie kam dicht an sein Gesicht heran. Im Halbdunkel sah sie ihn lächeln.
    »Also was hast du diesmal wieder gekauft, du verrückter Mr. Rail?«
    Zehn Kilometer entfernt schlug der Kirchturm von Quinnipak Mitternacht, es war Nordwind, und er trug die Glockenschläge einen nach dem anderen aus dem Städtchen bis ans Bett dieser beiden – als schnitten diese Glockenschläge die Nacht in Stükke, die Zeit ist eine messerscharfe Klinge und seziert die Ewigkeit – die Chirurgie der Stunden, jede Minute ein Schnitt, ein Schnitt, um sich zu retten – man klammert sich an die Zeit, soviel steht fest, weil die Zeit die Versuche zählt, zu sein, was man ist, Minute für Minute – zählen heißt, sich retten, soviel steht fest, und es ist auch die transzendentale Berechtigung einer jeden Uhr und die qualvolle Sanftheit aller Schläge egal welcher Glocke – man ist fest an die Zeit geklammert, damit es eine Ordnung in der täglichen elektrisierenden Niederlage gibt, ein Vorher und ein Nachher jeder Schock – fest angeklammert in wilder Angst und Entschlossenheit, mit hysterischer Pedanterie und unmenschlicher Kraft. Und wie jede Hysterie des Schreckens setzt sich auch diese zu einem Ritus zusammen, denn die erneute Zusammensetzung von Millionen hysterischer Angstzuckungen zu einem einzigen göttlichen Tanz ist ein Ritus, die Bühne, auf

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