Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
Vom Netzwerk:
Früher oder später kam man ans Ziel, das war alles. Doch die Eisenbahn … die war pünktlich. Sie war zu Eisen gewordene Zeit, auf zwei Schienen dahinrasende Zeit, die präzise Abfolge von Vorher und Nachher, die unablässige Prozession von Schwellen … und vor allem … sie war Geschwindigkeit … Geschwindigkeit. Die Geschwindigkeit kannte kein Pardon. Wenn es sieben Minuten Unterschied zwischen der Uhrzeit hier und der Uhrzeit dort gab, machte sie sie sichtbar … und wichtig. Jahre von Kutschfahrten hatten nicht vermocht, sie zu entdecken, doch ein einziger fahrender Zug konnte sie für immer entlarven. Die Geschwindigkeit mußte im Innern dieser Welt explodiert sein wie ein seit Jahrtausenden unterdrückter Schrei. Nichts schien wohl mehr wie früher zu sein, als die Geschwindigkeit kam. Alle Emotionen auf kleine Mechanismen reduziert, die umgestellt werden mußten. Wer weiß, wie viele Adjektive sich plötzlich als überholt erwiesen. Wer weiß, wie viele Superlative im Nu zerbröckelten und schlagartig in traurige Lächerlichkeit gerieten … An und für sich wäre die Eisenbahn nichts Besonderes gewesen, schließlich war sie nur eine Maschine … Doch das Geniale ist: Diese Maschine produzierte keine Kraft, sondern etwas theoretisch noch Verschwommenes, etwas, das es nicht gab: Geschwindigkeit. Sie war keine Maschine, die schafft, was tausend Menschen schaffen, sondern eine Maschine, die schafft, was es noch nie gab. Die Maschine des Unmöglichen. Eine der ersten und berühmtesten Lokomotiven, die George Stephenson baute, trug den Namen Rocket und machte fünfundachtzig Kilometer in der Stunde. Sie war es, die am 14. Oktober 1829 das Wettrennen von Rainhill gewann. Angetreten waren noch drei andere Lokomotiven, jede von ihnen mit einem schönen Namen (erschreckenden Dingen gibt man immer einen Namen, wie auch der Umstand zeigt, daß die Menschen vorsichtshalber gleich zwei haben): Novelty, Sans Pareil und Perseverance. Eigentlich war auch noch eine vierte angemeldet. Sie hieß Cyclopede, ein gewisser Brandreth hatte sie erfunden, und sie bestand aus einem Pferd, das auf einem Tretband mit vier Rädern galoppierte, die ihrerseits auf Schienen liefen. Man sieht, wie die Vergangenheit jedesmal und immer aufs neue der Zukunft trotzt, unglaubliche Kompromisse ohne den geringsten Sinn für deren Lächerlichkeit eingeht und sich leidenschaftlich kasteit, nur um weiterhin die Gegenwart zu beherrschen, selbst nach abgelaufener Frist noch, stur und stumpf, und während prophetische Kessel unter Dampf ihre blanken Schornsteine in puffenden und bizarren weißen Rauchwolken schwenkten, stellte sie ein armes Pferd auf ein Vehikel, das das Mittel, also die Räder, mit dem Zweck verwechselte. Es wurde allerdings disqualifiziert. Man disqualifizierte es, noch bevor es überhaupt loslief. Sie gingen also zu viert ins Rennen, die Rocket und die drei anderen. Die erste Prüfung: eine Strecke von anderthalb Meilen. Die Novelty bewältigte sie zügig mit durchschnittlich fünfundvierzig Stundenkilometern und erregte kolossales Aufsehen. Nur schade, daß sie zum Schluß explodierte, einfach so explodierte – es muß großartig sein, eine Lokomotive explodieren zu sehen, den Kessel, der wie eine rotglühende Blase zerplatzt, den kleinen, schmalen, langen Schornstein, der plötzlich leicht wie der Rauch in seinem Innern umherfliegt, und dann die Menschen, denn jemand mußte diese scharf gemachte Bombe auf zwei Eisenschienen ja gelenkt haben, die Menschen, die auch durch die Luft fliegen, wie Marionetten, wie blutüberströmte Dampfstöße, der tägliche Blutzoll, mit dem die Räder des Fortschritts geölt werden, es muß großartig sein, eine Lokomotive dahinrasen und dann explodieren zu sehen. Die zweite Prüfung sah eine Strecke von einhundertzwölf Kilometern vor, die mit einer Geschwindigkeit von sechzehn Stundenkilometern zurückgelegt werden sollte. Die Rocket ließ alle hinter sich. Sie zog mit fünfundzwanzig Kilometern pro Stunde sicher dahin, ein sensationelles Schauspiel. Nach der Auswertung erklärte man sie zum Sieger. Dieser geniale Kerl namens Stephenson hatte gewonnen. Und all das geschieht wohlgemerkt nicht in der Verschwiegenheit einer gewinnsüchtigen Versammlung steinreicher Männer, die nach einer schnellen und schmerzlosen Methode suchen, mit der sie ihre Kohlewaggons in alle Himmelsrichtungen transportieren können. Nein. All das geschah unauslöschlich vor den Augen von zehntausend Menschen, also vor

Weitere Kostenlose Bücher