Land aus Glas
ist, eine einzelne Note mit tadellosem Einsatz und in der richtigen Höhe anzustimmen.
Das Humanophon baute auf dieser weit verbreiteten Fähigkeit auf. Jeder Vortragende brauchte sich nur um seinen persönlichen Ton zu kümmern. Den Rest machte Pekisch.
Natürlich war die Gewandtheit des Instruments nicht besonders ausgeprägt. Es neigte dazu, sich bei der Bewältigung besonders schneller oder komplizierter Passagen zu verhaspeln. Auch deshalb hatte Pekisch ein geeignetes Repertoire erarbeitet, das fast ausschließlich aus seinen Variationen volkstümlicher Weisen bestand. Um die Ergebnisse zu veredeln, vertraute er auf eine geduldige didaktische Arbeit und auf die Wirksamkeit seiner Redekunst.
»Ihr kommt nicht her, um irgendeinen beliebigen Ton zu singen. Ihr kommt her, um euren Ton zu singen. Das ist nicht irgendwas. Das ist wunderschön. Einen Ton zu haben, meine ich. Einen Ton ganz für sich allein. Ihn unter tausend anderen zu erkennen und ihn mit sich herumzutragen, in sich und an sich. Und auch wenn ihr es mir nicht glaubt, sage ich euch, daß er atmet, wenn ihr atmet, daß er auf euch wartet, wenn ihr schlaft, daß er euch folgt, wohin ihr auch geht, und ich schwöre euch, daß er euch nicht losläßt, bevor ihr euch nicht entschließt, zu explodieren, und dann explodiert er mit euch. Ihr könnt vielleicht so tun, als ob nichts wäre; ihr könntet kommen und sagen: Lieber Pekisch, es tut mir leid, aber ich glaube nicht, daß ich überhaupt einen Ton in mir habe, und dann gehen, einfach gehen … Aber fest steht, daß es diesen Ton gibt … Es gibt ihn, doch ihr wollt ihn nicht hören. Und das ist idiotisch, es ist der Gipfel der Idiotie, jawohl, eine Idiotie, die einem die Sprache verschlägt. Einer hat einen Ton, der ihm gehört, und er läßt ihn in sich verfaulen … nein wirklich … hört auf mich … Auch wenn das Leben einen Heidenlärm macht, sperrt eure Ohren auf, bis ihr ihn hören könnt, und dann haltet ihn fest, laßt ihn nicht mehr entwischen! Tragt ihn mit euch herum, wiederholt ihn euch, wenn ihr arbeitet, singt ihn in Gedanken, laßt ihn in euren Ohren klingen, unter eurer Zunge und in euren Fingerspitzen! Und sogar in euren Füßen, jawohl, wer weiß, vielleicht schafft ihr es ja dann, ein einziges Mal pünktlich zu sein, damit man nicht immer mit einer halben Stunde Verspätung anfangen muß, jeden Freitag zu spät, das sage ich auch für Sie, Mr. Potter, gerade für Sie, bei allem Respekt, aber ich habe noch nie erlebt, daß Ihr g vor halb neun durch diese Tür kam, noch nie, das können alle hier bestätigen: noch nie.«
Kurz, Pekisch machte das mit Eleganz. Und die Leute hörten auf ihn. Das erklärt, weshalb alle Mitglieder des Humanophons, mit der sprunghaften Ausnahme von Mrs. Trepper, mit einer wahrhaft einzigartigen Klangsicherheit glänzten. Man konnte sie zu einem beliebigen Zeitpunkt, an einem beliebigen Ort anhalten und fragen, ob man ihren Ton hören durfte, und sie sangen ihn mit grenzenloser Natürlichkeit heraus, klar wie ein Blechinstrument, obwohl sie doch Menschen waren. Sie trugen ihn wirklich mit sich herum (in sich und an sich), genau wie Pekisch es sich vorstellte, wie ein Parfüm, wie eine Erinnerung, wie eine Krankheit. Einfach so. Mit der Zeit wurden sie selbst zu diesem Ton. Als zum Beispiel Reverend Hasek starb (Leberzirrhose), war allen klar, daß nicht nur Reverend Hasek tot war, sondern auch und eigentlich vor allem das tiefste fis des Humanophons. Die anderen beiden fis-Töne (Mr. Wouk und Mrs. Bardini) hielten die Grabrede, und Pekisch komponierte zu diesem Anlaß ein Rondo für kleines Orchester und Humanophon, das alle Töne außer dem gerade verblichenen enthielt. Die Sache war sehr ergreifend.
Einfach so.
»Verzeihung, Pekisch …«
»Was gibt’s, Brath?«
»Ich wollte nur sagen, daß Doktor Meisl fehlt.«
»Hat jemand den Doktor gesehen?«
»Der Doktor ist nicht da, er ist zu den Ornevalls gegangen, Mrs. Ornevall liegt wohl in den Wehen …«
Pekisch schüttelte den Kopf.
»Welchen Ton hatte der Doktor?«
»Das e.«
»Na gut, das e übernehme ich.«
»Pekisch, wenn du willst, mache ich das e und Arth macht mein h und …«
»Machen wir es nicht unnötig kompliziert, okay? Ich nehme das e. Jeder bleibt bei seinem Ton, und ich übernehme das e.«
»Der Doktor konnte es wunderbar …«
»Jaja, schon gut, er wird es das nächste Mal wieder wunderbar können, jetzt wollen wir anfangen … Ruhe, bitte!«
Sechsunddreißig Augenpaare
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