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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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eine.«
    Ingenieur Bonetti stand in völliger Fassungslosigkeit mit versteinertem Gesicht da. Wenn man ihn so sah, hätte man meinen können, ihm sei ein zweites Mal die Uhr geklaut worden.
    »Mr. Rail!«
    »Ja, Ingenieur?«
    »MR. RAIL!«
    »Reden Sie schon!«
    Doch anstatt zu reden, sank Bonetti auf seinen Stuhl wie ein Boxer, der nach ein paar ins Leere gesandten Haken entmutigt auf die Matte fällt. An dieser Stelle zeigte Bonelli, daß er mehr als eine Null war.
    »Sie haben vollkommen recht, Mr. Rail«, sagte er.
    »Danke, Mister …«
    »Bonelli.«
    »Danke, Mr. Bonelli!«
    »Jawohl, Sie haben vollkommen recht, und obgleich die Einwände des Ingenieurs ausgesprochen fundiert sind, kann man nicht leugnen, daß Sie sehr konkrete Vorstellungen von dem haben, was Sie wollen, und daß Sie es folglich auch verdienen. Lassen Sie sich, wenn Sie gestatten, trotzdem gesagt sein, daß die Möglichkeit, eine Stadt als Zielort für Ihren Zug zu bestimmen, nicht so drastisch ausgeschlossen werden sollte. Wenn Ihnen, wie ich verstanden zu haben glaube, die Wahl des Ortes, an dem die Schienen enden sollen, völlig gleichgültig ist, dürfte es Sie nicht verdrießen, wenn dieser Ort sagen wir: zufällig eine Stadt ist, eine beliebige Stadt. Wissen Sie, eine solche Möglichkeit würde uns viele Probleme ersparen. Es wäre leichter, die Bahnlinie zu bauen, und es wäre leichter, eines Tages einen Zug darauf fahren zu lassen.«
    »Und was heißt das konkret?«
    »Ganz einfach: Nennen Sie uns irgendeine Stadt auf dieser Karte, die zweihundert Kilometer von hier entfernt ist, und Sie bekommen Ihre zweihundert Kilometer langen schnurgeraden Schienen mit einem Zug darauf, der hundert Sachen fährt.«
    Mr. Rail deutete ein zufriedenes, erstauntes Lächeln an. Er warf dem alten Andersson einen Blick zu und beugte sich dann über die Karte. Er studierte sie, als hätte er sie noch nie gesehen, was übrigens äußerst wahrscheinlich war. Er maß sie mit den Fingern ab, murmelte etwas vor sich hin und ließ seinen Blick schweifen. Ringsumher Totenstille. Etwa eine Minute verging. Dann raffte sich der alte Andersson aus seiner Reglosigkeit auf, beugte sich über die Karte, nahm seine Pfeife zum Ausmessen zweier Entfernungen, lächelte zufrieden, rückte dicht an Mr. Rail heran und flüsterte ihm einen Namen ins Ohr.
    Mr. Rail ließ sich gegen die Stuhllehne zurückfallen, als hätte ihn etwas schwer getroffen.
    »Nein«, sagte er.
    »Warum nicht?«
    »Weil wir dort nicht hinkönnen, Andersson, das ist keine xbeliebige Stadt.«
    »Eben. Gerade weil es keine x-beliebige Stadt ist …«
    »Ich kann den Zug dort nicht ankommen lassen, versteh das doch!«
    »Da gibt es nichts zu verstehen. Es ist kinderleicht. Niemand verbietet uns, ihn dort ankommen zu lassen, diesen Zug, niemand!«
    »Niemand verbietet es uns, aber es ist besser, wenn wir ihn woanders ankommen lassen, soviel steht fest.«
    Bonetti und Bonelli hörten zu, reglos und still wie zwei Grabsteine.
    »Außerdem würde Jun mir das nie verzeihen.«
    Mr. Rail schwieg, nachdem er »Außerdem würde Jun mir das nie verzeihen« geflüstert hatte. Einen Augenblick lang schwieg auch der alte Andersson. Dann stand er auf und sagte an die beiden Gäste gewandt:
    »Bitte entschuldigen Sie uns einen Moment, meine Herren!«
    Er nahm Mr. Rail mit ins Nebenzimmer. Chinesischer Salon.
    »Jun wird dir nicht nur verzeihen, sondern es wird sogar das größte und schönste Geschenk überhaupt.«
    »Geschenk? Aber das ist kompletter Blödsinn! Sie will nicht mal das Wort Morivar hören, und ich lasse dort einen Zug ankommen! Nein, nein, Andersson, das ist keine gute Idee …«
    »Jetzt hör mal gut zu, Mr. Rail: Meinetwegen müßtet ihr nie im Leben über Morivar sprechen, ihr könntet dieses Geheimnis für euch behalten, und ich bin bestimmt der letzte, der es in die Welt posaunt, aber das ändert auch nichts. Es wird der Tag kommen, der Tag, an dem Jun dorthin muß, nach Morivar. Und wenn die Züge wirklich wie das Schicksal sind, und das Schicksal wie die Züge ist, dann sage ich dir, daß es an dem Tag keine bessere und keine schönere Art geben wird, dort hinzukommen – nach Morivar – als mit dem Hintern in einem Zug.«
    Mr. Rail schwieg.
    Er schaute den alten Andersson an und dachte nach. Eine alte Traurigkeit stieg in ihm hoch, und er wußte, daß er sie nicht bis dahin kommen lassen durfte, wo sie ernstlich anfangen würde, weh zu tun. Er versuchte, sich einen Zug in voller Fahrt

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