Land aus Glas
durchaus einen Schauder des Entsetzens, als sie mit einer auf ihre Art liebevollen Behutsamkeit die ersten Schienenstraßen neben die herkömmlichen bauten, genau neben sie, Kurve für Kurve, was ein Mittel war, die Zukunft zu flüstern statt zu schreien, damit sie nicht zu schrecklich klang, und sie flüsterten sie unaufhörlich, bis jemand fand, daß es an der Zeit sei, diese Idee von den anderen zu trennen, und sie trennten sie ab, indem sie sich von den immer gleichen Straßen entfernten und die Schienen in die Einsamkeit ihrer Kraft entließen, wo sie bisher ungeahnte Trassen pflügten.
All das war geschehen, früher einmal. Und es war keineswegs wenig, sondern etwas Riesiges – Riesiges –, so daß es schwerfällt, es sich im Ganzen vorzustellen, alles auf einmal, mit allem, was dazugehörte, mit dem ganzen Wirrwarr an Konsequenzen, die darin prasselten, mit einer Unzahl gigantischer Einzelheiten – das fällt schwer, ohne Zweifel, und trotzdem: wenn man sie sich doch vorstellen könnte, diese riesige Sache, wenn man den Knall hören könnte, den sie verursachte, als sie damals im Kopf dieser Menschen explodierte, wenn man sie sich nur einen Augenblick lang vorstellen könnte, käme man vielleicht dahin, zu verstehen, warum an jenem Abend, als der Kirchturm von Quinnipak Mitternacht zu schlagen begann und Jun sich über das Gesicht von Mr. Rail beugte, um ihn zu fragen: »Also was hast du diesmal wieder gekauft, du verrückter Mr. Rail?«, Mr. Rail sie fest umarmte und ihr mit dem Gedanken daran, daß er nie aufhören würde, sie zu begehren, zuflüsterte: »Eine Lokomotive.«
2
»Geben Sie mir noch mal meinen Ton, Mr. Pekisch?«
»Es kann doch nicht sein, daß Sie ihn jede Woche wieder vergessen, Mrs. Trepper!«
»Glauben Sie mir, ich begreife es ja selbst nicht, aber trotzdem …«
Pekisch kramte in seiner Tasche, bis er das richtige Pfeifchen gefunden hatte, er blies hinein, und im Saal erklang ein klares as.
»Da bitte, genau das ist er … Wissen Sie, er klingt wie der von Mrs. Arrani, er klingt genauso, und doch …«
»Mrs. Arrani hat das g, das ist doch ein ganz anderer Ton.«
Mrs. Arrani bestätigte das, indem sie schrill ihr persönliches g zum besten gab.
»Vielen Dank, das reicht.«
»Das war nur, um Ihnen zu helfen,«
»Natürlich, wunderbar, doch jetzt Ruhe bitte!«
»Verzeihung, Pekisch …«
»Was gibt’s, Brath?«
»Ich wollte nur sagen, daß Doktor Meisl fehlt.«
»Hat jemand den Doktor gesehen?«
»Der Doktor ist nicht da, er ist zu den Ornevalls gegangen, Mrs. Ornevall liegt wohl in den Wehen …«
Pekisch schüttelte den Kopf.
»Welchen Ton hatte der Doktor?«
»Das e.«
»Na gut, das e übernehme ich.«
»Pekisch, wenn du willst, mache ich das e und Arth macht mein h und …«
»Machen wir es nicht unnötig kompliziert, okay? Ich nehme das e. Jeder bleibt bei seinem Ton, und ich übernehme das e.«
»Der Doktor konnte es wunderbar …«
»Jaja, schon gut, er wird es das nächste Mal wieder wunderbar können, jetzt wollen wir anfangen … Ruhe, bitte!«
Sechsunddreißig Augenpaare hefteten sich auf Pekisch.
»Heute abend stimmen wir Verzauberter Hain, heimatliche Wälder an. Erste Strophe halblaut, Refrain etwas lebhafter, wenn ich bitten darf. Okay. Alle Mann auf die Plätze. Und wie gehabt: Vergeßt, wer ihr seid, und laßt der Musik freien Lauf! Alle fertig?«
Jeden Freitagabend spielte Pekisch das Humanophon. Es war ein merkwürdiges Instrument. Er hatte es selbst erfunden. Es war praktisch so etwas wie eine Orgel, die aber statt aus Pfeifen aus Menschen bestand. Jeder gab einen Ton von sich, nur einen: seinen ganz persönlichen. Pekisch dirigierte das Ganze von einer primitiven Tastatur aus. Wenn er auf eine Taste drückte, verursachte ein kompliziertes System von Seilen einen heftigen Ruck am rechten Handgelenk des entsprechenden Sängers. Wenn der Sänger den Ruck spürte, sang er seinen Ton. Wenn Pekisch auf der Taste verweilte, blieb das Seil gespannt, und der Sänger hielt den Ton. Wenn Pekisch die Taste losließ, verlor das Seil seine Spannung, und der Sänger verstummte. Schlicht und einfach.
Nach Aussage seines Erfinders hatte das Humanophon einen entscheidenden Vorteil: Es gestattete selbst den unmusikalischsten Leuten, in einem Chor zu singen. Während es nämlich wirklich viele Menschen gibt, die nicht in der Lage sind, drei Töne aneinanderzureihen, ohne dabei falsch zu singen, trifft man dagegen höchst selten auf jemanden, der unfähig
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