Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
Vom Netzwerk:
Schein einer kleinen Flamme. Das Tempo des Zuges und die Reglosigkeit des erleuchteten Buches. Die ewig irisierende Vielgestaltigkeit der Welt ringsumher und der versteinerte Mikrokosmos eines lesenden Auges. Wie eine Insel der Stille inmitten eines Donnerkrachens. Wenn es keine wahre Geschichte wäre – nicht wirkliche Geschichte – , könnte man meinen, es sei nur das Prachtexemplar einer genauen Metapher. In dem Sinn, daß nämlich Lesen allezeit und für jedermann vielleicht nie etwas anderes war, als sich auf einen Punkt zu konzentrieren, um von dem unkontrollierbaren Fortgleiten der Welt nicht verführt, und nicht zerstört, zu werden. Nichts läse man, gar nichts, wenn nicht aus Angst. Oder um die Versuchung eines zerstörerischen Wunsches abzuwehren, der man, wie man weiß, nicht widerstehen kann. Man liest, um nicht zum Fenster aufzuschauen, soviel steht fest. Ein aufgeschlagenes Buch ist immer der Beweis für die Anwesenheit eines Feiglings – die Augen fest auf die Zeilen geheftet, um sich den Blick nicht von der Glut der Welt abspenstig machen zu lassen – Wörter, die eines nach dem anderen das Getöse der Welt in einen matten Trichter zwingen, um es in Glasförmchen zu gießen, die man Bücher nennt – das ist die raffinierteste aller Rückzugsarten, soviel steht fest. Eine Schweinerei. Aber eine äußerst sanfte. Das ist wichtig, und man wird sich immer wieder daran erinnern und es weitersagen müssen, von Fall zu Fall, von einem Kranken zum andern, wie ein Geheimnis, ein Geheimnis, das weder durch die Ablehnung noch durch die Kraft irgendeines Menschen je erstirbt und das im Gedächtnis wenigstens einer kaputten Seele immer weiterlebt und wie ein Verdikt, das alles andere zum Schweigen bringen kann, darin klingt: Lesen ist eine äußerst sanfte Schweinerei. Kann denn einer etwas von dieser Sanftheit begreifen, der sein eigenes Leben mit allem Drum und Dran noch nie über die erste Zeile der ersten Seite eines Buches gebeugt hat? Nein, dies ist die einzige und sanfteste Zuflucht vor jeglicher Angst – ein Buch, das beginnt. So daß diese Züge, die die Welt kreuz und quer durchschnitten wie qualmende Wunden, zusammen mit unzähligen anderen Dingen – Hüten, Tieren, Ambitionen, Koffern, Geld, Liebesbriefen, Krankheiten, Flaschen, Waffen, Erinnerungen, Stiefeln, Brillen, Pelzen, Gelächter, Blicken, Traurigkeiten, Familien, Spielzeug, Unterröcken, Spiegeln, Düften, Tränen, Handschuhen, Lärm –, daß die Züge zusammen mit diesen unzähligen Dingen, die man schon vom Boden aufhob und in erstaunliche Geschwindigkeiten schickte, auch die unbezahlbare Einsamkeit dieses Geheimnisses mit sich führten: die Kunst des Lesens. All die aufgeschlagenen Bücher, diese unendlich vielen aufgeschlagenen Bücher, wie zum Innersten der Welt hin geöffnete Fenster, die auf ein Geschoß gesät waren, das dem Blick, wenn man nur den Mut hätte, aufzuschauen, das funkelnde Schauspiel der äußeren Welt bot. Das Innere der Welt und die äußere Welt. Das Innere der Welt und die äußere Welt. Das Innere der Welt und die äußere Welt. Das Innere der Welt und die äußere Welt. Zu guter Letzt endet es damit, daß man sich so oder so nochmals für das Innere der Welt entscheidet, während ringsumher die Versuchung rasselt, endlich einmal Schluß zu machen und einen Blick auf diese äußere Welt zu riskieren, darauf, wie sie wohl sein mag. Ist es möglich, daß sie wirklich so schrecklich ist, ist es möglich, daß sie nie vergeht, diese feige Angst zu sterben, zu sterben, sterben, sterben, sterben, sterben, sterben? Den sinnlosesten Tod, doch wenn man so will auch den folgerichtigsten, angemessensten und selbst verschuldeten, hatte Walter Huskisson, Senator Walter Huskisson. Er war Senator und hatte sich mehr als jeder andere dafür eingesetzt, daß das Parlament, die Nation und die ganze Welt die Revolution der Eisenbahn und im weiteren Sinn die wohltätige fixe Idee von den Zügen akzeptierten. So erhielt er einen Platz auf dem Wagen der Ehrengäste, als 1830 mit großer Festlichkeit und vielem Pomp endlich die Verbindung Liverpool-Manchester eingeweiht wurde und man stolze acht Züge in Reih und Glied hintereinander in Liverpool abfahren ließ, wobei George Stephenson persönlich auf seiner Northumbrian den ersten Zug lenkte und auf dem letzten eine Kapelle stand, die während der ganzen Fahrt wer weiß was spielte. Und wer weiß, ob ihr klar war, daß sie die erste Kapelle war – die mit an Sicherheit

Weitere Kostenlose Bücher