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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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alte Andersson protestiert. »Komm her und hör zu, den Rest laß meine Sorge sein«, hatte Mr. Rail geantwortet. »Und außerdem: wer hat das gesagt? Vielleicht wären sie aus Glas ja wunderbar!« Auf dem Tisch lag eine große Landkarte der Gegend von Quinnipak. Bonelli war mit einem dicken Aktenbündel und einem Reiseschreibtisch gekommen. Mr. Rail war im Morgenrock. Bonetti sah nach der Uhr. Der alte Andersson zündete seine Meerschaumpfeife an.
    »Ich nehme an, Mr. Rail, Sie haben sich schon überlegt, wie die Eisenbahnstrecke verlaufen soll …«, sagte Bonetti.
    »Wie bitte?«
    »Ich meine … Sie müßten uns genauer sagen, wo Sie die Eisenbahn abfahren lassen möchten und in welcher Stadt sie ankommen soll.«
    »Ach so … Der Zug soll in Quinnipak abfahren, das steht fest … oder besser gesagt, hier, er soll mehr oder weniger hier abfahren … Ich dachte mir, unten am Hügel ist eine große Wiese, ich glaube, die wäre ideal …«
    »Und wo wäre dann der Zielort?« erkundigte sich Bonetti mit einem skeptischen Unterton in der Stimme.
    »Zielort?«
    »Die Stadt, in der der Zug ankommen soll.«
    »Tja, es gibt keine bestimmte Stadt, in der der Zug ankommen soll … nein.«
    »Entschuldigen Sie, aber es muß eine Stadt geben …«
    »Finden Sie?«
    Bonetti sah Bonelli an. Bonelli sah Bonetti an.
    »Mr. Rail, Züge sind dazu da, Güter und Personen von einer Stadt in eine andere zu transportieren, das ist ihr Sinn und Zweck. Wenn ein Zug keine Stadt hat, in der er ankommen soll, dann hat er keinen Sinn.«
    Mr. Rail seufzte. Er ließ einen Augenblick verstreichen, dann begann er zu sprechen, in einem Tonfall, der viel verständnisvolle Geduld verriet.
    »Lieber Herr Ingenieur Bonetti, der einzig wahre Sinn eines Zuges besteht darin, mit einer Geschwindigkeit über die Erde zu brausen, die sonst niemand und nichts erreichen kann. Der einzig wahre Sinn eines Zuges besteht darin, daß der Mensch einsteigt und die Welt sieht, wie er sie noch nie gesehen hat, und daß er mit nur einem Mal so viel von ihr sieht, wie er auf tausend Kutschfahrten nicht gesehen hat. Wenn diese Maschine es unterdessen auch noch schafft, ein bißchen Kohle oder ein paar Kühe von einem Ort zum anderen zu bringen, um so besser – aber entscheidend ist das nicht. Deshalb gibt es, was mich betrifft, keinerlei Veranlassung dafür, daß mein Zug eine Stadt hat, in der er ankommen soll, denn er braucht generell nirgends anzukommen, besteht doch seine Aufgabe darin, mit hundert Stundenkilometern mitten durch die Welt zu rasen, und nicht darin, irgendwo anzukommen.«
    Ingenieur Bonetti schleuderte dem unschuldigen Bonelli einen wütenden Blick zu.
    »Aber das ist doch alles absurd! Wenn es so wäre, wie Sie sagen, könnte man genausogut einen Eisenbahnring bauen, einen großen Kreis von einem Dutzend Kilometern, und dann einen Zug darauf fahren lassen, der, nachdem er kiloweise Kohle verbrannt und einen Haufen Geld gekostet hat, den großartigen Erfolg verbuchen könnte, alle an ihren Ausgangspunkt zurückgebracht zu haben!«
    Der alte Andersson rauchte mit stoischem Gleichmut. Mr. Rail fuhr mit olympischer Ruhe fort: »Das ist eine andere Geschichte, lieber Ingenieur, man darf die Dinge nicht durcheinanderbringen. Wie ich Ihnen in meinem Brief erklärte, wäre es mein Wunsch, eine schnurgerade Eisenbahnlinie von zweihundert Kilometern Länge zu bauen, und ich habe Ihnen auch erklärt, warum. Die Flugbahn eines Geschosses ist gerade, und ein Zug ist ein abgefeuertes Geschoß. Wissen Sie, das Bild vom fliegenden Geschoß ist sehr schön: Es ist eine genaue Metapher des Schicksals. Das Geschoß fliegt und weiß nicht, ob es jemanden töten oder im Nichts enden wird, doch vorläufig fliegt es, und in seiner Bahn steht schon geschrieben, ob es am Ende das Herz eines Menschen zerfetzt oder irgendeine Wand lädiert. Sehen Sie das Schicksal? Alles steht schon geschrieben, doch lesen kann man nichts. Die Züge sind Geschosse, und auch sie sind eine genaue Metapher des Schicksals: eine ungleich schönere und ungleich größere. Darum denke ich, daß es wunderbar wäre, diese Monumente des unbestechlichen und geradlinigen Laufs des Schicksals auf die Erdoberfläche zu zeichnen. Sie sind wie Bildnisse, wie Porträts. Sie werden jahrelang das unerbittliche Profil dessen überliefern, was wir Schicksal nennen. Deshalb soll mein Zug zweihundert Kilometer auf schnurgerader Strecke fahren, lieber Ingenieur, und da wird nicht eine Kurve sein, nein, nicht

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