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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alessandro Baricco
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hefteten sich auf Pekisch.
    »Heute abend stimmen wir Verzauberter Hain, heimatliche Wälder an. Erste Strophe halblaut, Refrain etwas lebhafter, wenn ich bitten darf. Okay. Alle Mann auf die Plätze. Und wie gehabt: Vergeßt, wer ihr seid, und laßt der Musik freien Lauf! Alle fertig?«
    Zwei Stunden später gingen sie nach Hause, Pekisch und Pehnt, Pehnt und Pekisch. Sie glitten durch die Dunkelheit auf das Häuschen der Witwe Abegg zu, wo der eine sein Zimmer als Pensionsgast auf Lebenszeit hatte und der andere sein Bett als Fast-Sohn auf Zeit. Pekisch pfiff die Melodie von Verzauberter Hain, heimatliche Wälder vor sich hin. Pehnt setzte beim Gehen einen Fuß genau vor den anderen, als schwebte er auf einem unsichtbaren Faden über einem Canyon, der vierhundert Meter tief ist, vielleicht sogar noch mehr.
    »Du, Pekisch …«
    »Mmmh …«
    »Werde ich auch einen Ton bekommen?«
    »Natürlich wirst du einen bekommen.«
    »Und wann?«
    »Früher oder später.«
    »Wann früher oder später?«
    »Vielleicht, wenn du so groß bist wie deine Jacke da.«
    »Und welcher Ton wird das sein?«
    »Das weiß ich nicht, mein Junge. Aber wenn es soweit ist, wirst du ihn erkennen.«
    »Bist du sicher?«
    »Absolut.«
    Pehnt lief nun wieder auf seinem Phantasiefaden. Das Schöne daran war, daß, selbst wenn er herunterfiel, nichts passierte. Es war ein sehr tiefer Canyon. Aber es war auch ein gutmütiger Canyon. Er ließ zu, daß man stolperte, fast immer.
    »Du, Pekisch …«
    »Mmmh …«
    »Du hast doch einen Ton, nicht wahr?«
    Schweigen.
    »Welcher Ton ist das, Pekisch?«
    Schweigen.
    »Pekisch …«
    Schweigen.
    Denn Pekisch hatte, offen gestanden, keinen eigenen Ton. Er wurde langsam alt, spielte tausend Instrumente, hatte noch einmal so viele erfunden, hörte in seinem Kopf unzählige Töne schwirren, konnte einen Ton sehen, was nicht das gleiche wie ihn hören ist, wußte, welche Farbe die Klänge hatten, jeder einzelne, hörte sogar einen reglosen Stein klingen – doch einen eigenen Ton, den hatte er nicht. Das war keine einfache Geschichte. Er hatte zu viele Töne in sich, um seinen eigenen zu finden. Das ist schwer zu erklären. Aber so war es, und damit basta. Die Unendlichkeit hatte ihn verschlungen, diesen Ton, so wie das Meer eine Träne verschlingen kann. Da kann man lange versuchen, ihn wieder herauszufischen … man kann auch ein ganzes Leben damit zubringen. Pekischs Leben. Etwas, das nicht leicht zu verstehen ist. Wenn doch einer dagewesen wäre, in jener Nacht, als es in Strömen goß und der Kirchturm von Quinnipak elf schlug, dann könnte er vielleicht verstehen; wenn er alles mit eigenen Augen angesehen hätte, wenn er ihn, Pekisch, gesehen hätte in jener Nacht. Dann ja. Er könnte vielleicht verstehen. Es regnete wie aus Kannen und Eimern, und der Kirchturm von Quinnipak begann elf zu schlagen. Man hätte dort gewesen sein müssen, damals. Dort, in jenem Augenblick. Dort. Um zu verstehen. Etwas von all dem Ganzen.

3
     
    Der Eisenbahningenieur hieß Bonetti. Hochelegant, wenig Haare auf dem Kopf. Er duftete übertrieben. Mit ungewöhnlicher Häufigkeit sah er auf seine Uhr aus der Westentasche, was ihm den Anschein gab, ständig im Aufbruch begriffen zu sein, zu dringenden Pflichten gerufen. Dabei war es nur eine Angewohnheit, die er vor Jahren angenommen hatte, als man ihm eine ähnliche Uhr, ein kostbares Familienerbstück, im Gedränge des Festes des heiligen Patrick gestohlen hatte. Nicht, daß er nach der Zeit sah: Er vergewisserte sich nur, daß die Uhr noch da war. Als er nach drei Stunden Kutschfahrt in Quinnipak ankam, befand er nur kurz: »Die Notwendigkeit einer Eisenbahn für diese sogenannte Stadt ist nicht nur naheliegend, sondern sticht geradezu ins Auge.«
    Dann stieg er aus der Kutsche, versuchte, sich etwas Staub abzuklopfen, sah auf die Uhr und erkundigte sich, wo das Haus von Mr. Rail sei. Mit ihm reiste sein Assistent, ein lächelndes Männchen, das ohne ersichtlichen Grund den Namen Bonelli trug. Brath, der sie abholte, brachte sie in seiner Kutsche die Straße hinunter bis zur Glasfabrik und von dort aus den Hügel hinauf zum Haus von Mr. Rail.
    »Tolles Haus«, kommentierte Ingenieur Bonetti und sah nach der Uhr.
    »Wirklich toll«, antwortete Bonelli, den allerdings niemand gefragt hatte.
    Sie versammelten sich um einen Tisch. Bonetti, Bonelli, Mr. Rail und der alte Andersson. »Soweit ich weiß, werden Schienen nicht aus Glas gemacht. Was soll ich also dabei?« hatte der

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