Land aus Glas
Satz, den Andersson ihm einmal gesagt hatte und der seit Jahren auf seine Stunde gewartet hatte, half ihm aus der Not. Sie war gekommen, seine Stunde. »Und wenn du merkst, daß wirklich nichts zu machen ist, dann erzähl vom Glas. Die Geschichten, die ich dir erzählt habe. Du wirst sehen, sie beißt an. Keine Frau könnte solchen Geschichten wirklich widerstehen.«
/So einen Quatsch habe ich nie gesagt, Natürlich hast du das gesagt, Ausgeschlossen, Was dir fehlt, mein lieber Andersson, ist ein gutes Gedächtnis, Was dir nicht fehlt, mein lieber Mr. Rail, ist Phantasie/
Zwei Stunden lang erzählte Mr. Rail Jun vom Glas. Er dachte sich fast alles aus. Doch ein paar Sachen stimmten auch. Wunderschöne Sachen. Jun hörte zu. Als redeten sie über den Mond. Dann kam ein Mann in die Kneipe und rief, daß die Adel zum Ablegen bereit sei. Leute, die aufstehen, von hier nach da geschleuderte Worte, das Wogen von Koffern und Paketen, weinende Kinder. Jun steht auf. Sie nimmt ihre Sachen, dreht sich um und geht zur Tür. Mr. Rail legt Geld auf den Tisch und läuft ihr nach. Jun strebt eilig zum Schiff. Mr. Rail läuft ihr nach und denkt: Einen Satz, ich muß unbedingt den richtigen Satz finden. Doch sie ist es, die ihn findet. Sie bleibt ruckartig stehen. Sie stellt den Koffer ab, dreht sich zu Mr. Rail um und flüstert:
»Kennst du noch mehr von diesen Geschichten? … Geschichten wie die vom Glas?«
»Massenhaft.«
»Kennst du eine, die so lang ist wie die Nacht?«
/Und so bestieg sie es nicht, dieses Schiff. Wir blieben beide dort, in Morivar. Es dauerte sieben Tage, bis das nächste ging. Sie vergingen schnell. Dann vergingen noch einmal sieben. Diesmal hieß das Schiff Esther. Jun wollte wirklich mitfahren. Sie sagte, sie müsse wirklich fahren. Es hing mit diesem Päckchen zusammen, verstehst du? Sie sagte, sie müsse es dorthinbringen, ich weiß nicht mal, wo dieses Dorthin überhaupt ist, sie hat es mir nie gesagt. Aber dorthin muß sie es bringen. Zu jemandem, glaube ich. Sie wollte mir nie sagen, zu wem. Ich weiß, das ist eine merkwürdige Geschichte, aber so ist es. Es gibt dort jemanden, und eines Tages wird Jun zu ihm kommen und ihm dieses Päckchen in die Hand drücken. Damals, als wir in Morivar waren, zeigte sie es mir einmal. Sie wickelte es aus, und es war ein Buch darin, ganz in einer winzigen Handschrift geschrieben, blau eingebunden. Ein Buch, verstehst du? Nur ein Buch/
»Hast du das geschrieben?«
»Nein.«
»Und was steht drin?«
»Ich weiß nicht.«
»Du hast es nicht gelesen?«
»Nein.«
»Und warum nicht?«
»Vielleicht werde ich es irgendwann lesen. Aber erst muß ich es dorthinbringen.«
/Großer Gott, Andersson, ich habe keine Ahnung, wie man sich im Leben verhält, aber sie muß dieses Buch dorthinbringen und ich … ich habe es geschafft, daß sie nicht mit diesem Schiff namens Esther fuhr, ich habe es geschafft, sie hierherzubringen, und jede Woche geht ein Schiff, das ohne sie abfährt, seit Jahren schon. Aber ich kann sie nicht immer und ewig hierbehalten, ich habe es ihr versprochen, eines Tages wird sie aufstehen, ihr gottverfluchtes Buch nehmen und nach Morivar zurückkehren. Und ich werde sie gehen lassen. Ich habe es ihr versprochen. Mach nicht so ein Gesicht, Andersson, ich weiß selbst, daß das verrückt klingt, aber so ist es. Vor mir war dieses Buch da, in ihrem Leben, und ich kann nichts dagegen tun. Es ist da, auf halbem Weg, dieses verfluchte Buch, und es kann nicht immer da bleiben. Eines Tages wird es seine Reise fortsetzen. Und diese Reise ist Jun. Verstehst du das? Alles andere – Quinnipak, dieses Haus hier, das Glas, du, Mormy und sogar ich –, alles andere ist nichts weiter ah eine große unvorhergesehene Zwischenstation. Wie durch ein Wunder hält ihr Schicksal seit Jahren die Luft an. Doch eines Tages wird es weiteratmen. Und sie wird fortgehen. Es ist gar nicht so schrecklich, wie es aussieht. Weißt du, manchmal denke ich … vielleicht ist Jun so schön, weil sie ihr Schicksal klar und deutlich mit sich herumträgt. Es muß etwas sein, das einen außergewöhnlich macht. Sie hat es. Von jenem Tag, damals am Pier von Morivar, werde ich zwei Dinge nie mehr vergessen: ihre Lippen und wie sie dieses Päckchen umklammerte. Jetzt weiß ich, daß sie ihr Schicksal umklammerte. Sie wird es nicht loslassen, bloß weil sie mich liebt. Und ich werde es ihr nicht wegnehmen, bloß weil ich sie liebe. Ich habe es ihr versprochen. Es ist ein Geheimnis, und du
Weitere Kostenlose Bücher