Land aus Glas
Unterschrift.
Hector Horeau.
Mr. Rails großes Haus steht noch immer da. Halb leer, aber das ist von außen nicht zu sehen. Brath, der Mary geheiratet hat, ist auch noch da, und Mary ist noch da, die Brath geheiratet hat und ein Kind erwartet, das vielleicht von Brath ist, vielleicht auch nicht, egal. Mr. Harp, der sich um die Felder und Plantagen kümmert, ist auch noch da. Die Glasfabrik ist nicht mehr da, was übrigens nur recht und billig ist, wenn man bedenkt, daß auch der alte Andersson seit Jahren nicht mehr da ist. Auf der Wiese unten am Hügel steht Elisabeth. Sie haben ihr alle Schienen, die vor ihr lagen, weggenommen und ihr gerade einmal die beiden Stücke gelassen, die sie unter den Rädern hat. Wenn Züge Schiffbruch erleiden und Eisenbahnlinien im Himmel sein können, ist sie wie das Wrack eines Zuges, den man auf dem grasbewachsenen Meeresgrund der Welt abgestellt hat. Die Kinder aus Quinnipak umkreisen sie zuweilen wie Fische. Sie kommen extra aus dem Städtchen, um sie sich anzuschauen. Die großen erzählen, sie sei um die ganze Welt gereist und schließlich hier gelandet, und sie habe beschlossen anzuhalten, weil sie todmüde gewesen sei. Sie umkreisen sie, die Kinder aus Quinnipak, stumm wie Fische, um sie nicht aufzuwecken.
Mr. Rails Arbeitszimmer ist voller Skizzen: Springbrunnen. Früher oder später wird vor dem Haus ein großer Springbrunnen nur aus Glas stehen, und sein Wasser wird im Rhythmus der Musik steigen und fallen. Welcher Musik? Irgendeiner Musik. Und wie soll das möglich sein? Alles ist möglich. Das glaube ich nicht. Du wirst schon sehen. Zwischen all den Skizzen, die ringsumher aufgehängt sind, ist auch ein Zeitungsausschnitt. Darin steht, daß ein Mann ermordet wurde, einer der vielen Arbeiter, die die Gleise der großen Eisenbahnlinie zum Meer verlegen, »ein weitsichtiges Vorhaben, der Stolz der Nation, geplant und realisiert von dem scharfen Verstand des Edelmanns Bonetti, dem Pionier des Fortschritts und der geistigen Entwicklung des Königreichs«. Die Polizei ermittelt. Der Ausschnitt ist leicht vergilbt. Als Mr. Rail daran vorbeigeht, empfindet er nunmehr weder Groll noch Reue noch Genugtuung. Gar nichts mehr.
Seine Tage gleiten dahin wie die Worte einer alten Liturgie. Von der Phantasie zerzaust und vom treuen Kompaß der Alltäglichkeit wieder geordnet. Sie ruhen reglos in sich selbst, genau in der Schwebe zwischen Erinnerung und Traum. Mr. Rail. Zuweilen, vor allem im Winter, sitzt er gern still im Sessel vor dem Bücherschrank, in einem damastenen Hausrock und grünen Pantoffeln aus Samt. Seine Augen wandern langsam über die Buchrücken vor ihm: er überfliegt sie nacheinander in einem gleichbleibenden Rhythmus und löst Wörter und Farben heraus wie Verse einer Litanei. Am Ende angekommen, beginnt er ohne Eile wieder von vorn. Wenn er die Buchstaben nicht mehr erkennt und die Farben nur noch mit Mühe – weiß er, daß der Abend begonnen hat.
2
Im Hospital von Abelberg – das wußte jeder – waren die Verrückten. Mit geschorenen Köpfen und einer grau und braun gestreiften Uniform. Eine tragische Armee des Wahnsinns. Die Schlimmsten steckten in Holzkäfigen. Aber es gab auch welche, die frei herumliefen, ab und an fand man einen, der sich unten im Städtchen herumgetrieben hatte, man nahm ihn an die Hand und brachte ihn zurück, hinauf ins Hospital. Wenn sie durch die Gittertür gingen, sagten sie manchmal: »Danke.«
Es mochten an die hundert Verrückte gewesen sein, in Abelberg. Dazu ein Arzt und drei Schwestern. Und es gab so etwas wie einen Assistenten. Er war ein stiller Mann mit freundlichen Manieren und vielleicht sechzig Jahre alt. Er war eines Tages mit einem kleinen Koffer in der Hand dort aufgetaucht.
»Meinen Sie, daß ich hierbleiben könnte? Ich kann mich nützlich machen und werde niemandem zur Last fallen.«
Der Arzt fand nichts dabei. Und die drei Schwestern fanden, daß er auf seine Art ein sympathischer Mann war. Er zog ins Hospital. Mit sanfter Präzision kam er den verschiedensten Pflichten nach, als sei er im Bann eines transzendentalen Verzichts auf jeglichen Ehrgeiz gefangen. Er verweigerte nichts. Er erlaubte sich nur, jede Einladung zum Verlassen des Hospitals, und sei es auch nur für eine Stunde, mit höflicher Bestimmtheit abzulehnen.
»Ich bleibe lieber hier. Wirklich.«
Er zog sich jeden Abend um die gleiche Zeit in sein Zimmer zurück. Auf seinem Nachttisch gab es keine Bücher, gab es keine Bildnisse.
Weitere Kostenlose Bücher