Land aus Glas
wohl erkannt, daß das hier meines ist. Es hat etwas Seltsames, daß es so normal ist. Etwas Vergleichbares habe ich in Quinnipak nie gesehen. Aber vielleicht geht es mir gerade deshalb so gut hier. In Quinnipak hat man die Unendlichkeit vor Augen. Hier siehst Du, wenn Du wirklich in die Ferne siehst, in die Augen Deines Kindes. Und das ist ein Unterschied.
Ich weiß nicht, wie ich es Dir erklären soll, aber hier lebt man geschützt. Und das ist keine Schande. Es ist schön. Wo steht denn geschrieben, daß man unbedingt ungeschützt leben muß, immer herausragend auf dem Hauptgesims der Dinge, um das Unmögliche zu suchen und alle Fluchtwege zu erspähen, auf denen man der Wirklichkeit entgeht? Ist es denn wirklich Pflicht, außergewöhnlich zu sein?
Ich weiß es nicht. Aber ich halte an diesem Leben fest und schäme mich für nichts, auch nicht für meine Galoschen. Es liegt eine unermeßliche Würde in den Menschen, die ihre Ängste ohne zu mogeln wie Verdienstorden ihrer Mittelmäßigkeit offen mit sich herumtragen. Und ich bin einer von ihnen.
In Quinnipak, mit Dir zusammen, sah man immer die Unendlichkeit. Aber hier gibt es keine Unendlichkeit. Also sehen wir uns die Dinge an, und das genügt uns. Zuweilen, wenn wir es am wenigsten erwarten, sind wir glücklich.
Ich werde heute abend zu Bett gehen, und dann werde ich nicht einschlafen. Deine Schuld, Du alter, verflixter Pekisch.
Ich umarme Dich. Gott weiß, wie fest ich Dich umarme.
Pehnt, Versicherungsvertreter
4
Es geschehen Dinge, die wie Fragen sind. Eine Minute vergeht oder auch Jahre, dann antwortet das Leben. Die Geschichte von Morivar war eines von diesen Dingen.
Als Mr. Rail kaum mehr als ein Junge war, ging er eines Tages nach Morivar, denn in Morivar war das Meer.
Und dort sah er Jun.
Und er dachte: Ich werde mit ihr leben.
Jun stand inmitten einer Menschentraube. Man wartete darauf, an Bord eines Schiffes namens Adel zu gehen. Koffer, Kinder, Geschrei und Schweigen. Der Himmel war klar, und es kündigte sich ein Unwetter an. Merkwürdigkeiten.
»Ich heiße Dann Rail.«
»Na und?«
»Nichts, nur so, ich meine … fährst du weg?«
»Ja.«
»Wohin fährst du?«
»Und du?«
»Ich nirgendwohin. Ich fahre nicht weg.«
»Was machst du dann hier?«
»Ich bin hier, um jemanden abzuholen.«
»Wen?«
»Dich.«
/Du hättest sie sehen sollen, Andersson, sie war so was von schön … Sie hatte nur einen Koffer, er stand auf dem Boden, und in der Hand ein Päckchen, das sie fest umklammerte, das sie nie losließ, nicht eine Sekunde ließ sie es los an diesem Tag. Sie wollte nicht weg von dort, sie wollte auf dieses Schiff, also fragte ich sie: »Wirst du zurückkommen?«, und sie antwortete: »Nein.« Da sagte ich: »Also dann glaube ich nicht, daß es wirklich gut für dich ist, wenn du fährst«, das sagte ich zu ihr. »Und warum nicht?« Sie fragte mich: »Und warum nicht?«/
»Wie willst du es denn sonst anstellen, mit mir zusammenzuleben?«
/Und da lachte sie, es war das erste Mal, daß ich sie lachen sah, und Andersson, du weißt ja, wie Jun ist, wenn sie lacht, da kann man nicht so tun, als ob nichts wäre, wenn Jun einen anlacht, ist klar, daß man nicht anders kann als zu denken: Wenn ich diese Frau nicht küsse, werde ich verrückt. Und ich dachte: Wenn ich dieses Mädchen nicht küsse, werde ich verrückt. Natürlich war das nicht ganz das, was auch sie dachte, aber entscheidend ist, daß sie lachte, ungelogen, sie stand da, zwischen all den Leuten, mit ihrem Päckchen fest im Arm, und lachte/
Es blieben noch zwei Stunden bis zur Abfahrt der Adel. Mr. Rail erzählte Jun, daß er sich, wenn sie nicht etwas mit ihm trinken ging, einen großen Stein um den Hals binden und sich ins Hafenwasser stürzen wollte und daß der große Stein, wenn er ins Wasser fiele, den Kiel der Adel aufreißen würde, die daraufhin sinken und das Nachbarschiff rammen müßte, welches mit dem Laderaum voller Schießpulver unter schrecklichem Getöse explodieren könnte, so daß Dutzende Meter hohe Flammen auflodern würden, die in kurzer Zeit …
»Ja, ja, schon gut, bevor der ganze Ort lichterloh brennt, gehen wir zusammen etwas trinken, ja?«
Er nahm den Koffer, sie preßte das Päckchen an sich. Die Kneipe war etwa hundert Meter entfernt. Sie hieß »Herrjemine«. Das war kein Name für eine Kneipe.
Mr. Rail hatte zwei Stunden Zeit, eher noch etwas weniger. Er wußte, wohin er wollte, aber er wußte nicht, wo er beginnen sollte. Ein
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