Land der Erinnerung
der Stimmung dazu ist. Niemand wird ihn wegen unflätiger Redeweise verhaften. Sie mag sehr geschmacklos sein, eine solche Redeweise, und vielleicht läßt man es ihn merken, doch er wird nicht wie ein Aussätziger gemieden und beschuldigt werden, ein koprophages Ungeheuer zu sein.
Wie emmerdante die Lage auch war, ich hatte immer das sichere und erfreuliche Gefühl, daß ich mich wieder herauswinden könne. Ich meine nicht durch die Flucht in ein anderes Land oder durch die Verschanzung hinter meinen Status als Amerikaner. Ich meine damit, daß es verhält-nismäßig einfach war, den Bann zu brechen. Es bedurfte nur eines guten Buches (und deren waren Hunderte erhältlich), eines Ausflugs aufs Land (oder einfach in die Vorstädte), einer Mahlzeit mit einem Freund in einem ganz gewöhnlichen Restaurant, eines Besuchs im Atelier eines Malers oder eines zufälligen Zusammentreffens mit einem Straßenmädchen. Man steckte nicht bis zum Hals drin. Manchmal genügte schon ein Bummel in ein anderes quartier, um den Nebel des ennui zu vertreiben.
«J’ai le cafard!» Wie oft hörte man das in Paris! Das war eine Stimmung, die es zu respektieren galt. Der cafard war nicht einfach Langeweile oder ennui , er war mehr, tiefgründiger. Er war, was das französische Wort so beredt zum Ausdruck bringt. Etwas, das einen gerade in einer Stadt wie Paris besonders heftig befällt. In Oklahoma City oder Butte, Montana, könnte man niemals einen cafard haben, nicht einmal, wenn man Pariser wäre. Er ist eine eigentümliche Art von geistiger Lähmung, die nur jene befällt, die für die unbegrenzten Möglichkeiten, die sie umgeben, ein feines Gespür haben. Wenn man ihn mit irgendetwas vergleichen wollte, dann am ehesten mit der Mattigkeit, die den Anachoreten überkommt. Le cafard überfällt dich, wenn dein Geist leer wird, wenn er aufhört zu denken, was oder wie er zu betrachten habe. Le cafard ist die Müdigkeit, die das innere Auge überwältigt.
Soviel ich weiß, haben wir nichts Ähnliches. Das Gefühl der Leere, das der Amerikaner kennt, und das immer das Spiegelbild einer nur allzu wirklichen äußeren Leere ist, ruft nichts Geringeres als einen Zustand schwarzer Verzweiflung hervor. Da gibt es keinen Ausweg. Zwar gibt es die Flucht in den Alkohol, aber sie führt nur in noch tiefere, noch schwärzere Verzweiflung.
Neulich nachts, in einem Zustand milder Verzweiflung, griff ich zu einem Buch, von dem ich dachte, es werde diese Stimmung vertiefen und mich dadurch herausreißen. Ich wählte es wegen seines Titels: ‹Der Verzweifelte› von Léon Bloy. Die erste Seite war die richtige Tonart: die Farbe war wirklich schwarz, kein Zweifel. Doch sie vertiefte nicht die Schwärze in meinem Innern. Im Gegenteil, zu meinem Ärger merkte ich plötzlich, daß ich heiter wurde. Ich schreibe dieses Phänomen dem Zauber von Bloys Sprache zu; sie war von üppiger, samtener Struktur, großzügig und erhaben, wie bitter und makaber sie auch sein mochte. Sie war so extrem, so giftig, daß sie beinahe unfranzösisch war. Ah, dachte ich, was für ein Fest! Hier ist tiefes, schweres noir ... weide dich daran! Und ich gab mich dem Buch hin, wie man sich manchmal dem Kummer hingibt. Diese überladenen Eigenschafts- und Umstandswörter, diese erschreckend neuen Hauptwörter, diese Tiraden, diese geätzten Porträts . . . quel soulagement ! Es war wie vor einer Kathedrale, wenn der Leichenzug stehenbleibt und der ganze Pomp, den die Franzosen bei ihren Begräbnissen so lieben, sich entfaltet. Le désespéré, c'etait bien moi. Un cadavre rou-lant, oui, et comment! Rien de mignon, rien de mesquin, rien de menu. Tout était somhre, solennel. Jai assisté à l’enterrement de mon âme, avec tout ce qu'il y avait de vide et de triste. Je n'avais rien perdu que l’illusion de ma souffrance. On m'avait libéré de mon sort. . . Que de nouveau je parlais francais, c'était cela qui m avait fait du bien!
Alles, was in Verbindung mit Frankreich Verzückung in mir hervorruft, entspringt der Erkenntnis seiner Katholizität. Der Mensch der protestantischen Welt ist morbid: er ist beklommen in seiner Seele. Etwas nagt an ihm, etwas, das ihn freudlos macht. Sogar Katholiken, die in einer solchen Welt geboren sind, nehmen die kalte, gehemmte Art ihrer protestantischen Nachbarn an. Der amerikanische Katholik ist vom Katholiken Frankreichs, Italiens oder Spaniens völlig verschieden. In seinem Geist ist nichts Katholisches. Er ist genauso puritanisch, genauso
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