Land der Erinnerung
mit erschreckender Geschwindigkeit auf ihre eigene Vernichtung zubewegt. Hier die Grabschrift, der er ihr in Flammenlettern schrieb: «Die moderne Welt vernichtet jede Würde! Sie entwürdigt den Staat; sie entwürdigt den Menschen. Sie entwürdigt die Liebe; sie entwürdigt die Frau. Sie entwürdigt die Rasse, sie entwürdigt das Kind. Sie entwürdigt die Nation; sie entwürdigt die Familie . . . Es ist ihr sogar gelungen, das zu entwürdigen, was vielleicht auf der Welt am schwersten zu entwürdigen ist, weil es in sich, wie eingewebt, eine eigene Art von Würde trägt, wie eine einzigartige Unfähigkeit zur Erniedrigung: sie entwürdigt den Tod.»
Trotz der Wahrheit dieser Worte, trotz der schrecklichen Erfahrung, die die Franzosen eben erst gemacht haben, trotz der Tatsache, daß alles vom Schlechten zum Schlechteren sich entwickelt und daß Frankreich nicht minder anfällig ist als jedes andere Land der Welt, trotz alldem gibt es heute Franzosen, die sich dem schmählichen Zusammenbruch auf allen Fronten widersetzen. Es gibt Franzosen, die so fest in der Wirklichkeit verankert sind, die selbst heute so fest an den unbezwingbaren Geist des Menschen glauben, daß sie vor der Welt als die erwählten Überlebenden eines, ich möchte fast sagen, schon zum Untergang verurteilten Planeten dastehen. Sie haben allem, was nur geschehen kann, ins Auge gesehen, jedem entsetzlichen Unheil, das in der Tat höchstwahrscheinlich eintreffen wird; aber sie bleiben unerschütterlich und unerschrocken, entschlossen, als Menschen bis zum Ende der Zeiten durchzuhalten. Sie wissen wohl, daß das Beispiel, das Frankreich der Welt gab, entehrt und entstellt worden ist; sie sind sich bewußt, daß ihnen die Macht, die Welt nach ihrem Geschmack zu formen, entrissen wurde. Trotzdem leben sie weiter, als ob all das nichts zu bedeuten habe. Sie wirken fort wie Kräfte, die, einmal aufgerufen und in Bewegung gesetzt, so lange nicht aufhören können, ihren Einfluß auszuüben, bis sie vollständig verausgabt sind. Sie bauen nicht auf Regierung, Nationalität, Kultur oder Tradition, sondern auf den Geist, der in ihnen lebt. Sie haben auf Requisiten verzichtet, die Texte verbrannt. Auf der nackten Weltbühne improvisieren sie ihre Verse nach einem inneren Zwang, spielen ohne Regisseure, verschmähen Proben, Kostüme, Versatzstücke, lassen sich keine Stichworte aus der Kulisse zuflüstern, schenken der Stimmung des Zuschauers keine Beachtung, sondern sind nur von einer einzigen Idee besessen: das Drama zu Ende zu spielen, das in ihnen steckt. Es geht um das verzweifelte Drama der Identifikation, das Drama, in dem die Schranken zwischen Schauspieler und Zuschauer, zwischen Schauspieler und Autor fallen. Der Schauspieler ist nicht mehr Träger eines Ausdrucksmittels, das für ihn geschaffen wurde; er ist Mittel und Zweck zugleich. Die Welt ist seine Bühne, das Stück ist von ihm, die Zuschauer sind seine Mitmenschen. Die Vorstellung, die der Name ‹Frankreich› einst magisch wachrief, wird jetzt zum lebendigen Element der Wirklichkeit, das voll ausgespielt werden muß, um gebilligt zu werden. Frankreichs ganze Vergangenheit ist jetzt zu einem Theater geworden, so gewaltig, daß es die ganze Welt in sich schließt. Darin spielen die Chinesen ihre Rolle so gut wie die Russen und die Hindus, die Amerikaner, die Deutschen und die Engländer. Es ist der letzte Akt im Drama der Nationen. Ist es für Frankreich das Ende, so ist es auch das Ende für alle anderen Länder. Diese Beweglichkeit, diese Anpassungsfähigkeit der Franzosen wird sich im Augenblick der Auflösung noch beredter zur Geltung bringen.
Jean-Paul Sartre sagt in einem Aufsatz mit dem Titel «Das Ende des Krieges», der für Les Temps Modernes geschrieben wurde: «Und wenn wir aufs Leben setzen, auf unsere Freunde, auf unsere eigene Person, dann setzen wir auf Frankreich, dann unterziehen wir uns der Aufgabe, Frankreich in diese rohe und starke Welt einzubauen, in diese Menschheit in Todesgefahr. Wir müssen auch auf die Erde setzen, selbst wenn sie eines Tages auseinanderbröckeln sollte. Einfach, weil wir existieren.»
Daß mir Frankreich Mutter, Geliebte, Heimat und Muse geworden war, merkte ich erst spät. Mich hungerte so sehr, nicht nur nach dem Körperlichen und Sinnlichen, nach menschlicher Wärme und Verständnis, sondern auch nach Inspiration und Erleuchtung. Während der dunklen Jahre in Paris wurden all diese Bedürfnisse gestillt. Nie war ich allein, ganz gleich, wie
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