Land der Erinnerung
Vielleicht wirkt er sich auf die Grund-lagen deiner Natur aus. Du hast bis jetzt noch nicht begonnen, dein eigenes Leben zu leben, und es ist wichtig, daß man sein eigenes Leben lebt. . . Deine bisherige Existenz war nur der Ausdruck von etwas, das im Grunde nicht deinem Wesen entsprach . . . Bevor du nicht entblößt und nackt und ganz am Ende bist, bist du nicht fähig, den Boden freizulegen und dein wirkliches Haus zu bauen... Dieser Krieg, der die Zukunft der Menschheit für manche Jahrhunderte entscheiden mag, bietet dir die einmalige Gelegenheit, für die Vergangenheit zu sühnen. Denn du bist an diesem Krieg beteiligt. Es mag grausam klingen, und es ist wohl auch nicht allein dein Fehler, aber Tatsache bleibt, daß du in dem Maße, in dem du nicht dein eigenes Leben gelebt hast, persönlich für den Krieg verantwortlich bist: die Summe von unzähligen Vergangenheiten wie der deinen hat die Verantwortung für die Katastrophe zu tragen. Es nützt nichts, anzuführen, daß du nie jemanden gehaßt 87
hast, daß du dich immer von direkten Handlungen fern gehalten hast, die zur Unvermeidbarkeit des Krieges geführt haben.
Das war nicht genug. Dein großer Fehler, den du mit den weit-aus meisten Menschen teilst, bestand darin, ein falsches Leben zu führen. Diesen Fehler wiedergutzumachen, hast du jetzt die Gelegenheit. Ich weiß, daß du sie ergreifen wirst.»
Das also ist die Rechtfertigung dafür, an einem Mas-senmorden teilzunehmen? fragst du. Indem sich dein guter Freund Fred einfach auf die ‹richtige› Seite schlägt, macht er ein vertanes Leben wett? Im Namen von Frieden und Gerechtigkeit geht er morden, genau wie irgendein anderes irregelei-tetes Individuum - so ist das also? Ich kenne all die Fragen, die ihr bereithaltet, um sie mir entgegenzuschleudern. Obendrein werdet ihr mir sagen: «Was für ein Unsinn! Was für ein Selbstbetrug! Was für ein ausgemachter Quatsch! Wir hätten die ‹Bhagawadgita› aufschlagen können und hätten es beredter und überzeugender ausgedrückt gefunden.»
Wir wollen für einen Augenblick vergessen, wie er
seine Beweggründe rechtfertigte. Wir wollen uns für einen Augenblick auf das konzentrieren, was ihm während der gro-
ßen Katastrophe zustieß. Wie kam es, daß er nicht nur ver-schont blieb, daß er nicht nur moralisch und geistig an Format gewann, sondern daß er auch nie gezwungen war, einen Schuß abzufeuern; daß er überdies, statt seine Mitmenschen umzubringen, in der Lage war, mehrere vom Tode zu erretten? Hät-te er nicht direkt und offen teilgenommen, in welcher Art hätte er es dann getan? Denn beteiligt sind wir nun einmal alle, ob wir es wollen oder nicht? Hat er an einem Morden teilgenommen, oder nahm er an einer Sache teil, die tiefer gründet als der Krieg selbst? Ich glaube das zweite. Ich weiß, daß er, wie wir sagen, nichts für seine Person zu gewinnen hatte, indem er der britischen Armee beitrat. Aber als Mensch hatte er alles zu gewinnen, indem er sich mit dem Zustand der Welt identifi-zierte. Er verzichtete auf die falsche Sicherheit oder Immuni-tät, die er als einer, der en marge lebte, genoß. Er hörte auf, der ‹Renegat› zu sein, um stattdessen er selbst zu sein. Er führ-te nicht gegen seine Mitmenschen Krieg, denn er hatte sie nie gehaßt, sondern gegen das, was er als die Kräfte des Bösen betrachtete. Böse hieß in diesem Fall - und ist das nicht die 88
wirkliche Bedeutung des Bösen? - all das, was einen davon abhält, sein eigenes, wirkliches Leben zu leben. Er war bereit, das Gebot: «Du sollst nicht töten» zu verletzen, hinter dem er aus Feigheit Zuflucht gesucht hatte (töte mich nicht, und ich töte dich auch nicht!), weil etwas Größeres als Gesetzestreue auf dem Spiel zu stehen schien. In Wirklichkeit - ich möchte das noch einmal betonen - ergab es sich so, daß er nie in die Lage kam, das Gesetz brechen zu müssen. Gegenüber all jenen, die einwerfen, daß dies bloßer Zufall sei oder daß er durch seinen Dienst in der Armee anderen geholfen habe, zu töten, erlaube ich mir, anderer Meinung zu sein. In gar keiner Weise förderten seine Dienste das Morden. Oder wenn sie es taten, half auch der Lebensmittelhändler, der die diensttaugli-chen Bürger seines Landes mit Nahrung belieferte, bei diesem allgemeinen Morden mit. Wenn es Zufall war, daß er niemand getötet hat - durch welchen Zufall wurde er dann, statt in die Schützengräben, zu den Pionieren geschickt? Viele seiner Kameraden wünschten sich nichts
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