Land Spielen
bedeckt Gesicht und Blick, streicht über ein gedachtes drittes Auge die Stirn hoch zum Haaransatz, greift sich eine Strähne, folgt Haar und Stirn und landet beim Ohr. Die Geste hat den Blick geöffnet, die beiden Fremden, die beiden Spaziergänger, die beiden Verheirateten, die beiden Hügelsteher müssen sich nun anschauen, müssen ein ehrliches Gesicht machen, haben jetzt die Wahl.
Die Alternativen sind:
Dem Gegenüber nochmals durchs Haar fahren, schneller diesmal, diesmal wie einem kleinen Kind, dem man das Haar hinters Ohr streicht. Dazu würde ein »Ach du« ausgesprochen und man ließe den anderen wieder los, ließe die Sache bewenden.
Die andere Möglichkeit begänne ebenfalls mit einem Streichen übers Haar, bei dieser Variante führte die Bewegung aber zum Hinterkopf, wo die Hand kurz verweilen, wo sie die Berührung nicht für immer aufgeben, sondern eben gerade fortsetzen würde, und zwar zum Nacken hin, ein sanfter Druck der Finger führte hier die Gesichter zueinander, die Nasen wichen sich vorsichtig aus, die Münder wären nur wenige Millimeter weit geöffnet, bald würden sich die Lippen berühren, ein kurzes Blecken der Zähne wandelte sich in ein Umschließen einer Unterlippe, die geöffneten Münder suchten kurz Distanz, kokettierten mit einem halben Zentimeter Ferne, bis die trocknenden Lippen wieder zu Tastorganen würden und das eine Paar kaum merklich über das andere führe, worauf sich eine Zungenspitze einschaltete, die fremde Oberlippe leicht benetzte, die fremde Zunge hervorlockte, bis sich die Zungenspitzen ein spielerisches Duell lieferten und es Zeit würde, dass sich auch die Hände wieder in Bewegung setzten.
Aber noch ist man nicht so weit, noch steht die Entscheidung für eine der beiden Varianten aus. Noch hat keine der Hände zu keiner der Eröffnungssequenzen angesetzt. Noch schauen sich die beiden Gesichter unentschieden an, versuchen, sich nur so viel Unsicherheit anmerken zu lassen, wie sowohl als Zustimmung als auch als bevorstehender Abbruch gelesen werden kann. Noch wartet jeder, dass der andere sich schneller zu einem Beschluss durchringt, damit man selbst nicht mehr schuld ist am Folgenden. Ob es nun Kuss oder Loslösung bedeutet.
»Na …?«, sagt der eine.
»Hm?«, die andere.
Und der eine sagt nichts.
Und die andere fragt: »Was?«
»Was was?«
»Was wolltest du sagen?«
»Nichts.«
Und bevor er doch etwas sagen will, entsteht erneut eine Pause.
Was nicht ausgesprochen wird, das gibt es nicht. Da kann man lange spazieren, kann sich lange umarmen, man wüsste zwar eigentlich längst, woran man ist, aber dennoch ist es nicht in der Welt.
Moritz löst sich aus der Umarmung, wendet sich der überwältigenden Aussicht zu, denkt an die Aussichten auf wortloses Reißverschlussschließen, auf einen schweigenden Heimweg, auf Geheimhaltungsversprechen und Laubreste in der Unterwäsche. Und dann erst, dann endlich wird er seiner Rolle als Redner gerecht, benennt die Probleme, die er redend erst erschafft, um zu sagen, dass er auf ebensolche verzichten wolle. Er beginnt mit: »Es geht nicht.« Fügt an: »Ich mag dich, aber …« Das Wort »Affäre« fällt, Christine kaut auf ihrer Unterlippe herum, hört verständig und erwachsen zu, während Moritz etwas sagt wie: »Wir sind nicht in der Stadt, alles ist viel zu nahe.« Christine unterbricht. Ein leises: »Ja, ich weiß. Lass uns gehen.«
Und statt zu gehen, stehen die beiden da, ziehen verkniffene Gesichter, umarmen sich wieder. Jetzt ist das Thema auf dem Tisch, man könnte sich jetzt ebenso gut küssen.
*
Wir spielen im Wald, spielen Urmenschen, spielen Rauchen, Luftwurzeln brennen spielend, hustend tollen wir durchs Unterholz. Während unsere Größten sich zu Hause mit Haus- und Hofarbeit beschäftigen, planen wir Kleineren Baumhütten und Waldfestungen. Geeignete Standorte werden erklettert, Fabian spricht von Bretterdicken, Ralf von architektonischen Raffinessen, Ada träumt vom Leben im Wald, bekommt die Inneneinrichtung aufgebrummt. Bevor Bretter aufgetrieben und Nägel krumm gehauen werden können, bewohnen wir schon Traumhäuser, nennen den Nachbarbaum Wohnzimmer, finden neue Stämme mit tiefen Ästen, bewegen uns Pläne schmiedend weiter in den Wald hinein, suchen Lichtungen und Quellen. Wir kennen uns aus im Wald, kennen das schönste Spiel, das Sich-treiben-lassen heißt, lassen uns treiben, als hätten wir uns verirrt. Fabian ist der flinkste Kletterer, er ändert auch die Regeln am
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