Landgericht
plötzlich gestorbenen Mann, der sicher gewußt hätte, was man nun tun solle – jetzt in Deutschland. Er hätte die richtige Entscheidung gefällt, meint sie. Kornitzer bezweifelt das. Er bezweifelt alles Mögliche. Er hat seinen Schrecken über den Tod des Vaters im Sinn behalten, die Erinnerungen sind bruchstückhaft, an eine weitreichende, vorausschauende Klugheit, die noch in das nächste Jahrzehnt hinüberlappt, erinnert er sich nicht. Kornitzers Mutter bezweifelt sein Bezweifeln, sie weiß vieles aus Bedacht nicht, oder sie wünscht es nicht zu wissen. Auch über ihre Vermögensverhältnisse weiß sie nicht wirklich Bescheid. So scheint es ihm. Es ist, als wolle sie ihn mit den Hausmeistereien in der stickigen Wohnung zu einer Entscheidung bringen. Wenn du schon so abgesunken bist, daß du in einer Glühbirnenfabrik arbeiten mußt, bist du ein anderer Sohn geworden als der Juristensohn, auf den ich stolz war. Der Richter, der du warst, hätte Rat gewußt. Kornitzer kam es manchmal vor, als stecke in ihren prononcierten Klagen ein Vorwurf, er sei es selbst schuld, daß die Nazis ihn aus dem Richteramt gejagt hätten, und er mußte seinen Zorn herunterschlucken. Die rassische Verfolgung ignorierte sie, so gut es eben ging. Sie war einfach eine Dame, in deren Welt vieles unvorstellbar war. Daß man im Scheunenviertel aufräumte, nun ja, dafür hatte sie sogar Verständnis. Ihr Lebensraum hatte sich verengt, die große Wohnung saß wie eine faltige Hülle um ihren Körper, sie faßte sich ans Herz, blieb tagelang im Bett, die unvermeidliche Flasche mit Johannisbeersaft neben sich. Was für einfache Dinge wichtig wurden: das Übrigbleiben, das Reduzieren. Die Enttäuschung stand im Raum, daß der Sohn letztendlich oder von Anfang an in seinem Erwachsenwerden weder den ersten Ehemann noch den zweiten ersetzte, doch das war kein Vorwurf, nur ein Gefühl, das sich Kornitzer mitteilte. Sie ließ den Arzt kommen, zählte sorgsam die Herztropfen, die er verschrieb, in einen Eierbecher, dann stand sie wieder auf und empfing Freundinnen und Freunde, den Sohn, die Schwiegertochter, die Kinder, die sich gerne in den Abseiten der Wohnung versteckten, und alles war wie immer. Nun war sie tot, und alles war anders. Kornitzer machte sich Vorwürfe, er habe ihre Klagen auf die leichte Schulter genommen.
Seine Mutter war auf weitschweifige und beharrliche Weise gläubig gewesen, nur die Speiseregeln hatte sie, nachdem sie Witwe geworden war, aufgegeben. Zu vielerlei, all das Geschirr, die zweifache Menge von Töpfen. Doch auf einer Regel beharrte sie: Nach dem Fleischernen nie mehr Milch. So servierte sie nach dem Essen nur schwarzen Kaffee, und keine Bitte konnte sie erweichen, nur ein winziges Kännchen Milch auf den Tisch zu stellen, es war verboten, sie war gesetzestreu. Sie tauchte mit Eifer in das Laubhüttenfest, band die Sträuße und verbrachte in Ermangelung einer Hütte viel Zeit auf ihrem zugigen Balkon, der wie ein Schwalbennest über der Verkehrsader hing. Die bunten Papiergirlanden, die andere über ihren Balkon hängten, waren nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Jetzt war es genug. Abdankung, die Freiheit, gehen zu können zur rechten Zeit, zur längst überschrittenen Zeit, die gerade noch angehalten werden konnte. (Wie lang und mit welchem Ergebnis?)
Der Brauch sagte, daß die Tote bis zum Begräbnis nicht allein gelassen werden dürfe, allerdings auch nicht berührt werden solle. Warum das so war, wußte Kornitzer nicht. Die Zeit kam ihm vor wie ein genormtes Innehalten, eine Ruhe, die er sich selbst nicht gegönnt hätte, die aber nun erzwungen war. Es war so viel zu tun und zu regeln. Und so saß Kornitzer viel Zeit neben der Toten, sah in ihr Gesicht und versuchte, sich zu erinnern, wie sie als junge Frau ausgesehen hatte. Nach dem Brauch hätte er Psalmen sprechen sollen, aber nach dem Anruf des Höchsten in poetischer Form, nach der Formelhaftigkeit der Riten, war ihm nicht zumute. Lieber erinnerte er sich an ein hochfahrendes Lachen seiner Mutter, eine Kopfwendung, mit der sie eine vermeintliche Besorgnis abschüttelte. (Später ließ sich die Besorgnis nicht mehr abschütteln, hing wie ein Geruch in den Kleidern.) Er erinnerte sich eher an gefältelte, um den Busen herum geraffte Voilekleider als an ihr junges Gesicht, was ihm ein Schuldgefühl einflößte. Und er erinnerte sich an die baumbestandenen Straßen in der Südstadt von Breslau, in Kleinburg, wo er gewohnt hatte als Kind, an die gotischen
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